Jack Holborn
sei in die Hölle geraten.
Ich kauerte mich zusammen, die Hände vorm Gesicht, und vergaß alles im salzigen Jammer.
Und dann passierte etwas ganz Unheimliches. Eine Hand legte sich leicht auf meine Schulter.
»Wer ist da?« flüsterte ich. Zur Antwort fühlte ich die Finger sich in mich krampfen – und dann war die Hand fort. Als ich die Augen öffnen konnte, war niemand da. Ich rannte, um nach draußen zu sehen. Keiner war in der Nähe. Dann ging ich zurück zur Kombüse und fand auf den Brettern hinter meinem Sitzplatz ein paar Tropfen frisches Blut.
Der Kapitän! Er mußte es gewesen sein. Das frische Blut … die Anstrengung des Gehens muß seine Wunde wieder geöffnet haben. Nur ein paar Tropfen. Gott sei Dank war es nicht mehr. Der Trubel des Morgens wird ihn hochgescheucht haben. Er war gekommen, um zu sehen. Und war er jetzt wieder fort? Warum? Gefiel ihm nicht, was er sah? Das wußte nur Gott. Er hatte mir die Hand auf die Schulter gelegt, und das war genug. Die Welt war auf einmal wieder ein bemerkenswert angenehmer Ort.
Als der verschimmelte kleine Segelmeister schließlich mit dem kläglichen Fang aus dem morgendlichen Meer hereinkam – um ihn mit etwas Lohnendem zu ernähren – war ich so aufgeregt, daß ich nicht hätte sagen können, ob er einen Kopf hatte oder zwei. Und dies war also der Fremde, der vor nicht mal einer halben Stunde alle meine Gedanken beansprucht hatte. Sechs Tropfen Blut hatten ihn mir vollständig aus dem Hirn gewaschen.
V
In der folgenden Nacht schlief ich schlecht: die widerstreitenden Gefühle des Tages hatten mein Hirn zum Sieden gebracht. Ein dutzendmal glaubte ich Hinken im Dunkel zu hören und stand daher auf, um nach draußen auf das stille Deck und zum stillen Himmel zu schauen – und nach der Wache, still wie Stein ganz vorn auf dem Vorderdeck. Mehr war nie da. Vom Kapitän überhaupt kein Zeichen. Also ging ich zurück zu Mister Pobjoy: (Mister Pobjoy, viertelwach und daher fluchend wie wahnsinnig).
Am nächsten Tag war an Deck alles klarer Sonnenschein und scharfe Schatten: die Nebel lagen hinter uns und der Himmel war blau – bis auf einen kleinen grauen Buckel am Horizont hinter uns. Aber die Schatten bewegten sich irgendwie hinter meinen Augenwinkeln, und ich konnte keine zwei Schritte tun, ohne anzuhalten, um zu sehen, was sich da regte.
Den ganzen Tag spukte er um mich wie ein halb erinnerter Traum, bis ich zu denken begann, daß es nur das war und nichts anderes – nicht mehr als der trübe Überrest einer schlechten Nacht: die Wirkung von zu wenig Schlaf auf zu wenig Hirn. Dann fühlte ich gegen Einbruch der Nacht das Phantom verschwinden und wußte, daß ich mich nicht getäuscht hatte. Obwohl die Schatten tiefer waren, waren sie jetzt tot, und ich sah die erleuchtete Lampe in seiner Kajüte. Er hatte aufgegeben, was er suchte.
Aber warum hatte er die Kajüte heimlich verlassen? Was hatte ihn herausgetrieben? Nur eins. Der Fremde. Was war an diesem Mann, der mir so gewöhnlich aussah, daß ich sein Gesicht vergessen hatte? Was bedeutete er dem Kapitän, daß er ihn insgeheim und so mißtrauisch von seinem Krankenbett hochgescheucht hatte.? Etwas Beunruhigendes und Sonderbares.
In dieser Nacht wandte ich mich wieder an Mister Pobjoy, der so viel von den inneren Vorgängen zu wissen schien, obgleich er sie durch den Boden eines Ginglases sah. Er hatte vom Fremden nicht viel mehr gesehen als ich, denn dieser mysteriöse Herr hatte nach seinem Ungemach auf See den ganzen Tag in einem versteckten Winkel geschlafen. Er habe jedoch genug von seinem Äußeren gesehen, um auf sein Inneres zu schließen, und genug von seiner Geschichte gehört, um sich die Wahrheit denken zu können.
»Gott segne Sie, Mister Pobjoy«, sagte ich. »Aber was ist aus unserem schiffbrüchigen Herrn geworden?«
»Schiffbrüchig?« sagte er. »Aus dem schauerlichen Salzmeer gerettet? Auf ein handliches Floß von einem Delphin gesetzt (der ihm half, den Mast aufzurichten)? Und seine ganzen Kleider vom geisterhaften Arm eines ertrunkenen Kameraden ausgehändigt, der glaubte, daß er es hinfüro brauchen würde? Nein lieber Junge, Mister Solomon Trumpet war nie schiffbrüchig. Nein, glückauf! Er ist ausgesetzt worden: ausgestoßen! Aufgegeben, wie du in deiner erbarmungswürdigen Kindheit. Bloß – bloß – (außer du warst der frechste Bengel, der das Licht Londons erblickte) du bist nicht wegen Meuterei ausgesetzt worden.«
»Was für eine Art Mann ist er denn?« fragte
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