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Jack Holborn

Jack Holborn

Titel: Jack Holborn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Garfield
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hatte: sein weißes Gesicht unter dem Dreispitz, das in die Nacht entschwand – und ich wurde von dem schmerzlichen Wahn gepackt, den Augenblick zurückrufen zu wollen, so daß ich ihm warnend zuschreien konnte: »Kapitän! Man wird Sie töten. In fünf Minuten. Kommen Sie zurück!«
    Dann hörte ich Mr. Morris den Männern scharf befehlen, daß sie Platz machen sollten: »Tretet dort beiseite! Zurück! Zurück! Hört ihr mich?«
    Über das Deck taumelte der etwas verschimmelte kleine Meister unter einer Last, bei der ihm niemand helfen durfte. Sehr sanft und eifersüchtig war er, sehr behutsam mit seiner kostbaren Bürde, obwohl ihm eine Menge Blut über die fast versagenden Arme rann und auf die Hose, ihm die Strümpfe streifte … Er ließ sich keinen Mann nahekommen und sagte nichts weiter als: »Er lebt, sage ich euch … er lebt … er lebt …« Immer und immer wieder. Mister Morris hatte zurückgebracht, was vom Kapitän noch übrig war.

IV
    Er war dem Tod sehr nahe. Er hatte einen Stich in die Seite bekommen und viel Blut verloren. Mr. Morris stellte eine Wache vor seine Kajüte und ließ niemanden hinein. Er brachte selbst den Haferschleim rein, den Mr. Pobjoy zubereitete, und gab mir das blutige Verbandzeug zum Waschen. Näher kam ich an ihn nicht heran.
    In jener unheilvollen Nacht (die von Gott weiß welchem unglücklichen Zufall oder bitteren Verrat heraufbeschworen war) hatte man zehn Mann verloren: neun an der Küste getötet und einen, der am nächsten Morgen an Bord seinen Wunden erlag.
    Wir segelten jetzt mit westlichem Kurs, der sinkenden Sonne entgegen. Der Wind war schwach und kam seitlich, so daß wir langsam fuhren und die Nebelschwaden, die bei Morgengrauen aufkamen, über uns hinrollten und die Masten vom Deck zu scheren schienen. Die Nebel waren schwer und naß, und wenn sie vergingen, trieften die Segel und das Takelwerk – als weinte die Charming Molly um ihren kranken Kapitän.
    »Denn ein Schiff hat eine Seele wie ein Lebewesen«, sagte Mister Pobjoy eines Morgens, als er den Haferschleim ausschöpfte. »Kein Wunder, daß sie mit schlaffen Segeln läuft zu einem Furz von Wind. Sie ist nicht besser als eine Witwe, die in der Welt verlassen ist, mit niemandem, der sie lenken könnte – und keinem Hafen, der sie aufnimmt.«
    Tränen standen in seinen roten Augen, oder etwas, was ihnen aufs Haar glich.
    »Aber um Himmels willen, Mister Pobjoy!« rief ich aus. »Er ist noch nicht tot. Er lebt … atmet … wird wieder stark …«
    »Nicht tot … nein, nicht tot …« Er wischte sich die Nase und blickte verstohlen um sich. »Aber sein Geist läßt schnell nach. Manchmal spürt es Pobjoy in den Wanten, die sich freischütteln wollen. Und wenn es so wird – o, wenn diese großen Schwingen davonrauschen, dann steht nichts mehr zwischen Pobjoy und dem Himmel!«
    Sein gewöhnlicher Ausdruck von gin-getränktem Elend und gin-geheiligtem Frieden war ihm aus dem Gesicht geschwunden. Statt dessen war es das Gesicht eines sehr jammervollen alten Mannes, der starr über die Bedeutung dessen, was er gesagt hatte, nachgrübelte und sich fragte, ob sein Wort das Schicksal war und eine Katastrophe in der Zukunft heraufbeschworen hatte, die unvermeidlich kommen mußte …
    »Hier. Bring ihm das – wenn er wirklich noch lebt.«
    Er schauderte und gab mir den Napf, den er versehentlich zu vollschöpfte.
    Sein Gerede lastete schwer auf mir, als ich behutsam an der Backbordreling entlangging, denn der weiße Nebel an Deck war so dick, daß ein drei Schritt entfernter Mann nicht mehr war als ein Schatten und ebensogut ein Mast sein konnte.
    Ich dachte, ich sähe den Besanmast gerade vor mir – und wunderte mich, daß ich so weit aus meiner Bahn geraten war. Dann verschwand er, und ich meinte, daß es vielleicht Sam Fox war, der hoch aufgerichtet stand, wie manchmal an diesen weißen Morgen, als warte er auf etwas …
    Ich ging sehr vorsichtig, um nicht mit ihm zusammenzustoßen – wenn er es war – und die Schale des kranken Mannes zu verlieren. Dann hörte ich, sehr leise und schwach, eine Stimme singen! Ich strengte die Ohren an, aber die hundert verschiedenen Zungen der Charming Molly begannen alle auf einmal zu flüstern, und ich war mir nicht sicher. Dann hörte ich es vielleicht wieder – dann wieder nicht – nicht für mehrere lange Sekunden – dann abermals, einen Fetzen davon, sehr dünn und weit entfernt:
    »Fahr’ ich in die Weite,
    komm’ ich doch wieder,
    fahr’ ich auch tausend

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