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Jack Holborn

Jack Holborn

Titel: Jack Holborn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leon Garfield
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eines unsichtbaren bösen Vaters erschienen, von dem sie die Ermächtigung zur Sünde ableiteten. So war auch mein Blick nicht der einzige, der zur leeren Schiffstreppe abirrte, und meine Füße nicht die einzigen, die in jenem Teil des Schiffes leise auftraten.
    Es war an meinem vierten Tag an Bord (obwohl es eher schien wie mein vierzigster), gerade nach zwölf Uhr mittags – denn die Sonne stand zwischen dem Haupt- und dem Fockmast – und ich, ein bißchen weiter unten, war zwischen dem Besan- und dem Hauptmast. Der Schatten des Hauptmasts war zu kurz, als daß ich darin hätte verweilen können, und die Sonne knallte sehr heiß herunter, so daß mir schwindlig wurde.
    Ich träumte mit untätigem Schrubber und wurde beinahe von der Bewegung des Schiffes in Schlaf gewiegt, als ein Paar Schuhe meinen Blick kreuzten und anhielten.
    Solche Schuhe hätte ich bei meinem Schuhmacher in Holborn nicht einmal mit meinem Lebensodem verunreinigen dürfen! Von feinstem Cordova-Leder, das vom Schritt nicht runzlig wurde. Die Schnallen waren aus purem Gold und zeugten von jener Art der Bescheidenheit, die der äußerliche Schnörkel großen Stolzes ist. Mein Herz fing heftig an zu schlagen, und vergessene Szenen meines vergangenen Lebens blitzten an mir vorüber – wie es geschehen soll, wenn einer ertrinkt. Aber obwohl ich in diesem Moment in keiner Lebensgefahr schwebte, war ich so übermächtig erschreckt, daß ich eine Todesgefahr für meine Seele ahnte. Ich blickte auf und sah zum ersten Mal den Kapitän der Charming Molly.
    Ich fühlte einen schweren Schock, denn er war gar nicht, wie ich ihn mir vorgestellt hatte. Die Sonne beschien ihn voll und verlieh ihm einen solchen Strahlenglanz und eine solche Wärme, daß ich in meinem Herzen nur ausrufen konnte: »Das ist kein Kapitän von Mördern! Nicht dieser gute, gütige, einfach aussehende, gerechte Mann! Er ist irrtümlich an Bord. Er bleibt aus Schwermut über die Bosheit der anderen in seiner Kajüte.« Ich sprang auf die Beine und hätte meine Mütze gezogen, wenn ich eine gehabt hätte – genau wie Mister Pobjoy prophezeit hatte –, denn dieser sauber gekleidete Herr mit kurzgeschnittenem Haar und ländlichgefärbter Haut hatte ein solches Gebaren! Ich konnte nicht glauben, daß er war, was er war, denn er stand da so schlicht und gelassen, die Beine gespreizt und die Hände hinterm Rücken. Vielleicht waren seine Augen ein wenig kalt und fischartig, als hätten sie mehr gesehen als die der meisten Männer, aber sie schienen sich eher mit seinem Gesicht zu streiten als zu ihm zu passen.
    »Du mußt Jack sein«, sagte er freundlich und hockte sich auf Deck nieder, nachdem er sich eine Stelle mit dem Taschentuch abgestaubt hatte. Stumm vor Erstaunen hockte ich mich auch nieder – wozu er mich mit einer Geste aufgefordert hatte –, und da saßen wir nun, der Kapitän und ich, mitten auf dem Deck wie ein Paar Freunde, während die Mannschaft ihrer Arbeit nachging, als sei nichts auf der Welt passiert.
    »So hat also das Geschick dich zum Piraten gemacht. Kein schlechtes Leben für einen Kirchspieljungen – wenn er einen kühlen Kopf behält.« Er sah mich nicht groß an, während er sprach, sondern sah nieder aufs Deck, als wolle er mich durch eine allzu eingehende Musterung nicht verängstigen.
    »Ein Kirchspieljunge, wenn er zur See geht und auf Zeit darauf fährt – und sei es nur vier oder fünf Tage – muß vergessen, daß es überhaupt so etwas gibt wie trockenes Land. Denn das Leben eines Kirchspieljungen ist ein zartes Gebilde; und sollte er den Fuß auf Land setzen, so ist es wahrscheinlich, daß er mit beiden Füßen in der Luft tanzt. Verstehst du meinen Sinn, Jack?«
    »Ja, Sir«, sagte ich. »Ich würde gehängt werden.«
    »Sehr gut! Ja, wirklich sehr gut! Du weißt also alles über das Dreibein?«
    »Jawohl. Es ist der Baum – der Galgen.«
    »Großartig, Jack! Wahrhaftig großartig! Jeder könnte schon mit halbem Ohr und halbem Auge merken, daß du ein kluger Junge bist. Du gefällst mir, Jack. Du und ich werden gut zusammen auskommen. Bei deinem Witz möchte ich schwören, daß du aus London stammst. Stimmts? Sag’s mir, Junge, ›nichts ist mir lieber wie ein Londoner Jung’‹.«
    »Ich bin in Holborn gefunden worden, Sir«, sagte ich, indem ich aus seiner lächelnden Stimmung Mut schöpfte.
    »Gefunden? Ach ja, Morris hat’s mir erzählt: ein Findling. Keine Sorgen, Jack – wenn du keinen eigenen Namen hast, kannst du auch keinen

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