Jack McEvoy 01 - Der Poet
kommt sie mit einer Freundin herein, und sie gehen auf der Tribüne entlang und suchen nach einem Platz. Es war einer dieser entscheidenden Momente, sie schaute mich direkt an und winkte ..., und ich erstarrte. Und ... dann ... dann drehte ich mich um und schaute hinter mich, um festzustellen, ob sie jemand anders zugewinkt hatte.«
»Jack, du Esel!«, sagte Rachel lächelnd. Sie nahm sich die Geschichte nicht so sehr zu Herzen, wie ich es lange Zeit getan hatte.
»Als ich mich ihr wieder zuwandte, hatte sie den Blick gesenkt. Ich hatte sie in Verlegenheit gebracht, sie vor den Kopf gestoßen. Bald darauf ging sie mit jemand anders aus. Hat ihn schließlich geheiratet. Ich habe lange gebraucht, um darüber hinwegzukommen.«
Wir legten die letzten Schritte bis zur Hoteltür schweigend zurück. Ich öffnete Rachel die Tür und sah sie mit einem wehmütigen, verlegenen Lächeln an.
»Also«, sagte ich. »Diese Geschichte beweist, dass ich schon immer ein zynischer Esel war.«
Wir durchquerten das Foyer, und der Nachtportier schaute auf und nickte. Auf der Treppe blieb Rachel stehen und flüsterte mir so leise, dass er es nicht hören konnte, zu: »Ich finde, jeder sollte in sein eigenes Zimmer gehen.«
»Ich kann dich trotzdem hinaufbringen.«
»Nein, danke, lieber nicht.«
Sie schaute zurück zur Rezeption. Der Nachtportier hatte den Kopf gesenkt und las in einer Boulevardzeitung. Rachel drehte sich wieder zu mir um, küsste mich auf die Wange und flüsterte: »Gute Nacht.« Ich schaute ihr nach, wie sie die Treppe hinaufging.
Ich wusste, dass ich nicht würde schlafen können. Ich war mit einer wunderschönen Frau im Bett gewesen, hatte mich im Laufe des Abends in sie verliebt. Ich wusste nicht genau, was Liebe war, aber ich wusste, dass Akzeptiertwerden ein Teil davon war. Und genau das hatte ich bei Rachel gespürt. Etwas, das bisher in meinem Leben gefehlt hatte. Dieses Gefühl war aufregend und beunruhigend zugleich.
Als ich durch die Hoteltür auf die Straße trat, um noch eine Zigarette zu rauchen, steigerte sich dieses Gefühl der Beunruhigung noch. Ich hatte Rachel nicht alles über das Mädchen in der High School erzählt. Ich hatte ihr den Schluss der Geschichte verschwiegen. Dass das Mädchen Riley gewesen war und der Junge, mit dem sie ausging und den sie später heiratete, mein Bruder. Ich wusste nicht, weshalb ich das ausgelassen hatte.
Ich hatte keine Zigaretten mehr. Ich kehrte ins Foyer zurück und fragte den Nachtportier, wo ich eine Schachtel bekommen konnte. Er verwies mich ans Cat & Fiddle. Ich sah, dass neben seinem Stapel Zeitungen eine offene Schachtel Camel lag, aber er bot mir keine an, und ich bat ihn auch nicht darum.
Während ich allein den Sunset Boulevard entlangging, dachte ich wieder an Rachel, und dabei fiel mir etwas ein, was ich jedes Mal registriert hatte, als wir uns liebten. Bei allen drei Malen, die wir bisher zusammen gewesen waren, hatte sie sich voll und ganz hingegeben, und trotzdem hatte ich den Eindruck gehabt, dass sie ausgesprochen passiv gewesen war. Sie hatte die Kontrolle an mich abgetreten. Beim zweiten und dritten Mal hatte ich auf die kleinen Nuancen der Veränderung gewartet und mich sogar in meinen eigenen Bewegungen und Entscheidungen zurückgehalten, damit sie die Führung übernehmen konnte, aber sie hatte es nicht getan.
Daran war im Prinzip nichts auszusetzen, und es beunruhigte mich auch nicht im Mindesten, aber es kam mir trotzdem seltsam vor. Denn ihre Passivität in diesen horizontalen Momenten stand in diametralem Gegensatz zu ihrem Verhalten in der Vertikalen. Außerhalb des Bettes übernahm eindeutig sie das Kommando oder versuchte es zumindest. Vermutlich war es diese Art von subtilem Widerspruch, die sie für mich so begehrenswert machte.
Als ich stehen blieb, um den Sunset zu überqueren, registrierte ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung links von mir. Ich wandte rasch den Kopf und sah die Gestalt eines Menschen, die im dunklen Eingang eines geschlossenen Ladens verschwand. Ein Schauder lief mir über den Rücken, aber ich bewegte mich
nicht. Der Ladeneingang lag ungefähr zwanzig Meter von mir entfernt. Ich war ziemlich sicher, dass es ein Mann gewesen war und dass er vermutlich noch dort stand.
Ich spürte, wie mein Herz schneller zu schlagen begann. Ich wusste, dass es vielleicht nur ein Obdachloser auf der Suche nach einem Schlafplatz gewesen war. Ich wusste, dass es hundert Erklärungen geben konnte. Trotzdem hatte ich Angst.
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