Jack McEvoy 01 - Der Poet
aufgerissenen Augen, blind. Die Hände hatte er auf seine Ohren gepresst. Offensichtlich hatte er zu spät erkannt, was passierte. Die Pistole lag neben ihm auf dem Boden. Vorsichtig kroch ich darauf zu.
Gladden hörte mich, setzte sich auf. Er tastete hektisch den Boden ab. Wir griffen gleichzeitig nach der Waffe. Wir kämpften um sie, rollten übereinander. Mein einziger Gedanke war, den Abzug zu fassen zu bekommen und zu feuern. Es spielte keine Rolle, ob ich ihn traf. Ich wusste, dass die Agenten den Laden bald stürmen würden. Wenn ich das Magazin leeren konnte, würde es keine Rolle mehr spielen, wer die Pistole hatte. Es wäre vorbei.
Wir hatten sie genau zwischen uns, den Lauf nach oben gerichtet. Ich schaffte es, meinen linken Daumen hinter den Abzugsbügel zu quetschen. Mit der rechten Hand zog ich den Lauf zur Seite. Dann drückte ich ab. Die Waffe entlud sich. Ich spürte den scharfen Schmerz, als die Kugel das Gewebe zwischen meinem Daumen und meiner Handfläche durchschlug. Im gleichen Moment hörte ich Gladden aufheulen. Ich schaute zu seinem Gesicht hoch. Blut spritzte aus seiner Nase. Vielmehr aus dem, was davon noch übrig war. Die Kugel hatte den Rand seines linken Nasenlochs weggerissen und eine klaffende Furche durch seine Stirn gezogen.
Ich spürte, dass sein Griff vorübergehend locker wurde, und riss die Waffe mit Macht an mich. Ich war gerade dabei, mich von Gladden zu lösen, als das Geräusch von Tritten auf Glas und unverständliche Rufe zu hören waren. Da versuchte Gladden abermals, die Waffe an sich zu bringen.
Mein Daumen klemmte immer noch hinter dem Abzug. Die Pistole entlud sich abermals. Ich sah Gladden in die Augen und erkannte, dass er sich diese Kugel gewünscht hatte.
Sein Griff lockerte sich, und er kippte nach hinten. Eine große Wunde klaffte in seiner Brust. Gladden fasste hin und betrachtete das viele Blut an seiner Hand.
Plötzlich packte mich jemand von hinten und zog mich von ihm weg. Eine Hand ergriff meinen Arm, eine andere löste behutsam die Waffe aus meiner Hand. Ich schaute auf. Es war ein Mann, der einen schwarzen Helm, einen schwarzen Kampfanzug und darüber eine lange kugelsichere Weste trug. Er war mit einer Art Sturmgewehr und mit Kopfhörern ausgerüstet, an denen ein dünnes schwarzes Mikrofon befestigt war. Er schaute auf mich herab, dann drückte er auf den Sendeknopf an seinem Ohr.
»Alles unter Kontrolle«, sagte er. »Zwei liegen am Boden, und zwei sind in Ordnung. Kommt rein.«
43
Er hatte keine Schmerzen, und das wunderte ihn. Das Blut, das durch seine Finger und über seine Hände sprudelte, war warm und tröstlich. Er hatte das Gefühl, gerade einen Test absolviert zu haben. Er hatte ihn bestanden. Was für einer es auch immer gewesen sein mochte. Die Geräusche und die Bewegungen um ihn herum waren gedämpft. Die Menschen bewegten sich wie in Zeitlupe. Er sah sich um, entdeckte den, der auf ihn geschossen hatte. Denver. Für eine Sekunde trafen sich ihre Blicke, doch dann kam jemand dazwischen. Der Mann in Schwarz beugte sich über ihn. Handschellen. Gladden lächelte über diese Albernheit. Handschellen konnten ihn nicht daran hindern, dorthin zu gehen, wohin er jetzt ging.
Dann sah er sie. Eine Frau. Sie beugte sich über den aus Denver. Sie drückte seine Hand. Gladden erkannte sie wieder. Sie war diejenige, die zu ihm gekommen war, vor so vielen Jahren, im Gefängnis. Jetzt erinnerte er sich an sie.
Ihm wurde kalt. Seine Schultern, sein Hals. Seine Beine. Sie waren taub. Er wollte eine Decke, aber niemand beachtete ihn. Niemand kümmerte sich um ihn. Der Raum wurde heller, wie durch Fernsehkameras. Er glitt davon, und er wusste es.
»So ist das also«, flüsterte er, aber niemand schien es zu hören.
Außer der Frau. Sie drehte sich zu ihm um. Ihre Augen trafen sich, und Gladden glaubte ein leichtes Nicken, die Erkenntnis, zu sehen. Was für eine Erkenntnis?, fragte er sich. Dass ich sterbe? Dass mein Hiersein einen Sinn hatte? Er drehte den Kopf in ihre Richtung, wartete darauf, dass das Leben endlich aus ihm wich. Jetzt würde er zur Ruhe kommen. Für immer.
Er sah sie noch einmal an, aber sie schaute wieder auf den anderen Mann. Gladden betrachtete ihn. Den Mann, der ihn getötet hatte. Ein merkwürdiger, letzter Gedanke bahnte sich seinen Weg in seinen Kopf. Er schien zu alt zu sein. Zu alt, um einen so jungen Bruder zu haben. Ein Irrtum.
Gladden starb mit offenen Augen. Starrte den Mann an, der ihn getötet hatte.
44
Es
Weitere Kostenlose Bücher