Jack McEvoy 01 - Der Poet
hast gefragt, was mich bedrückt, und ich habe es dir gesagt.«
»Du hast vermutlich zu viele von den Tabletten genommen, die der Arzt dir gegeben hat. Schlaf dich erst einmal richtig aus. Ich muss jetzt los.«
Sie legte auf.
»Leb wohl«, sagte ich in die Stille hinein.
48
Die Sonne ging unter, und der Himmel hatte die Farbe eines reifen Kürbisses, mit phosphoreszierenden rötlichen Streifen. Es war ein herrlicher Anblick. Ich war abermals auf den Balkon getreten, versuchte, mir alles zusammenzureimen, und wartete auf Bledsoes Rückruf. Er hatte eine Nachricht hinterlassen, während ich mit Rachel sprach. Sie lautete, er sei nicht in seinem Büro, würde aber wieder anrufen.
Ich betrachtete den Marlboro Man, seine von Runzeln umgebenen Augen, denen die Zeit nichts hatte anhaben können, sein stoisches Kinn. Er war seit jeher einer meiner Helden gewesen. Mir fiel wieder ein, wie ich jeden Abend im Esszimmer rechts von meinem Vater gesessen hatte. Er hatte immer geraucht, und der Aschenbecher hatte immer rechts von seinem Teller gestanden. Das war der Grund dafür gewesen, dass ich auch mit dem Rauchen angefangen hatte. Für mich hatte mein Vater ausgesehen wie der Marlboro Man. Damals jedenfalls.
Ich rief zu Hause an. Meine Mutter meldete sich. Sie erkundigte sich fast hysterisch, ob es mir gut ginge, und machte mir Vorwürfe, dass ich mich nicht schon früher gemeldet hatte. Nachdem ich sie endlich beruhigt und ihr versichert hatte, dass alles in Ordnung war, bat ich sie, meinen Vater an den Apparat zu holen. Wir hatten seit der Beerdigung nicht mehr miteinander gesprochen - sofern wir damals überhaupt etwas gesprochen hatten.
»Dad?«
»Mein Junge! Geht es dir wirklich gut?«
»Ja, alles in Ordnung. Und wie geht es dir?«
»Auch gut. Wir haben uns nur Sorgen um dich gemacht.«
»Das ist jetzt nicht mehr nötig.«
»Eine verrückte Geschichte, was?« »Du meinst, das mit Gladden? Ja.«
»Riley ist hier. Sie bleibt ein paar Tage bei uns.«
»Das ist schön, Dad.«
»Möchtest du mit ihr sprechen?«
»Nein, ich wollte mit dir reden.« Das brachte ihn zum Verstummen. »Du bist in Los Angeles?«
»Ja, und ich bleibe noch ein oder zwei Tage hier. Ich wollte nur ... Ich rufe an, weil ich ... Ich habe viel nachgedacht und wollte dir sagen, dass es mir Leid tut.«
»Was tut dir Leid, mein Junge?«
»Alles. Sarah, Sean und alles andere.« Ich lachte auf die Art, wie man lacht, wenn etwas nicht komisch ist, sondern man sich unbehaglich fühlt. »Mir tut alles Leid.«
»Jack, bist du sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?«
»Ja, es geht mir gut.«
»Also, du brauchst nicht zu sagen, dass dir irgendetwas Leid tut.«
»Tut es aber.«
»Also ... dann tut es uns auch Leid. Mir tut es leid.«
Ich ließ zu, dass das Schweigen diese Worte unterstrich. »Danke, Dad. Ich muss Schluss machen. Grüß Mom und Riley.«
»Das werde ich tun. Willst du nicht auch herkommen, wenn du zurück bist?«
»Gute Idee.«
Ich legte auf. Marlboro Man, dachte ich. Ich schaute durch die offene Balkontür und sah seine Augen oberhalb des Geländers. Sie beobachteten mich. Meine Hand fing wieder an zu schmerzen. Und mein Kopf auch. Ich wusste zu viel. Ich wollte es nicht wissen. Ich nahm noch eine Tablette.
Um halb sechs rief Bledsoe endlich an. Er hatte keine gute Nachricht für mich. Das letzte Teilchen des Schleiers der Hoffnung zerriss endgültig. Während ich ihm zuhörte, war mir, als ströme alles Blut aus meinem Herzen. Ich war wieder allein. Und was das Ganze noch schlimmer machte, war die Tatsache, dass die Frau, die ich begehrt hatte, mich nicht etwa zurückgewiesen hatte. Sie hatte mich vielmehr auf eine Art und Weise benutzt und verraten, wie ich es mir nie hätte vorstellen können.
»Rachel Walling«, begann Bledsoe. »Ihr Vater war Harvey Walling. Ich habe ihn nicht gekannt. Als er Detective war, bin ich noch Streife gegangen. Ich habe mit einem von seinen alten Kollegen geredet, und er hat mir erzählt, dass sie ihn immer Harvey Wallbanger genannt haben. Sie wissen schon, nach dem Drink. Er war ein seltsamer Vogel, ein Einzelgänger.«
»Wie ist er gestorben?«
»Darauf komme ich gleich. Ein Kumpel hat für mich im Archiv die alte Akte herausgesucht. Ist vor neunzehn Jahren passiert. Komisch, dass ich mich nicht daran erinnert habe. Ich war einfach blind. Jedenfalls habe ich mich mit meinem Kumpel in der Fells Point Tavern getroffen. Er hatte die Akte bei sich. Und es war definitiv die von Rachels
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