Jack McEvoy 01 - Der Poet
anzurufen, konnte ihn aber weder in der Area Three noch in Eleven-Twenty-One erreichen, wie die Polizeizentrale genannt wurde. Die Sekretärin bei der Mordkommission weigerte sich, mir zu sagen, wo er war, und auch, ihn anzupiepsen.
Um sechs hatte ich mich fast damit abgefunden, aufs Kreuz gelegt worden zu sein, als jemand an meine Tür klopfte. Es war Washington.
»Hey, Jack«, sagte er, ohne hereinzukommen. »Lassen Sie uns ein bisschen spazieren fahren.«
Washington hatte seinen Wagen in der Lieferanteneinfahrt des Hotels geparkt. Er hatte einen Polizeiausweis auf das Armaturenbrett gelegt, deshalb gab es keine Probleme. Wir fuhren los. Er überquerte den Fluss und fuhr dann auf der Michigan Avenue in Richtung Norden. Es schneite unvermindert heftig, und an beiden Seiten der Straße hatten sich hohe Schneewehen gebildet.
»Da, wo Sie herkommen, gibt es vermutlich auch eine Menge Schnee, Jack.«
»Ja.«
Er bemühte sich, Konversation zu machen. Ich hätte zu gern gewusst, was er in Wirklichkeit zu sagen hatte, hielt es aber für besser, abzuwarten, bis er von selbst zur Sache kam. Danach konnte ich immer noch die Reportermasche abziehen und Fragen stellen.
Auf der Division bog er nach rechts ab, vom See fort. Das Gefunkel der Miracle Mile und der Gold Coast lagen bald hinter uns, und die Gebäude wurden schäbiger und vernachlässigter. Ich nahm an, dass wir vielleicht zu Bobby Smathers’ Schule fuhren, aber Washington sagte nichts.
Inzwischen war es völlig dunkel geworden. Wir fuhren unter der El hindurch und kamen kurz darauf tatsächlich an einer Schule vorbei. Washington zeigte darauf.
»Die hat der Junge besucht. Dort ist der Spielplatz. Und dann ist er verschwunden, einfach so.« Er schnippte mit den Fingern. »Ich bin gestern noch den ganzen Tag hier herumgewandert. Sie wissen schon, der Jahrestag. Nur für den Fall, dass etwas passierte oder der Kerl, der Täter, wieder vorbeigekommen wäre.«
»Und?«
Washington schüttelte den Kopf und verfiel in düsteres Schweigen.
Aber wir hielten nicht an, sondern fuhren weiter nach Westen, und bald näherten wir uns einer Reihe von verwahrlosten Hochhäusern. Ich wusste, dass dies Häuser mit Sozialwohnungen waren, schwach beleuchtete Monolithen, die sich vor dem blauschwarzen Himmel abzeichneten. Sie wirkten kalt und hoffnungslos, die Habenichtse der städtischen Skyline.
»Was wollen wir hier?«, fragte ich.
»Sie wissen, wo wir hier sind?«
»Ja. Ich habe hier studiert - in Chicago, meine ich. Jeder kennt Cabrini-Green. Was ist damit?«
»Ich bin hier aufgewachsen. Und Jumpin’ John Brooks auch.«
Ich dachte sofort an die Probleme, die das vermutlich mit sich gebracht hatte. Zuerst in einer solchen Umgebung zu überleben, und dann als Überlebender auch noch Cop zu werden.
»Senkrechte Gettos, jedes einzelne von ihnen. John und ich pflegten zu sagen, es sei der einzige Ort, an dem man mit dem Fahrstuhl nach oben fährt, um in die Hölle zu kommen.«
Ich nickte nur.
»Und das auch nur, wenn die Fahrstühle funktionierten.«
Mir wurde bewusst, dass ich nie auf die Idee gekommen war, dass Brooks ein Schwarzer gewesen sein könnte. Die Computer- Ausdrucke hatten kein Foto enthalten, und die Journalisten hatten keinerlei Veranlassung gehabt, seine Hautfarbe zu erwähnen. Ich war einfach davon ausgegangen, dass er weiß gewesen war - eine Annahme, die ich später würde analysieren müssen. Im Augenblick versuchte ich herauszufinden, was Washington mir damit sagen wollte, dass er mich hierher gebracht hatte.
Er steuerte auf einen Parkplatz neben einem der Hochhäuser zu. Zwei mit Schichten von Graffiti aus vielen Jahren verkrustete Mülltonnen. Ein verrostetes Basketballbrett ohne Korb. Washington zog die Handbremse an, ließ den Motor aber laufen. Ich wusste nicht, ob er das tat, damit die Heizung in Betrieb blieb oder damit wir notfalls schnell flüchten konnten. Eine kleine Gruppe von Teenagern, mit Gesichtern, die so schwarz waren wie der Himmel, rannten aus einem Gebäude über einen gefrorenen Hof in ein anderes.
»Und jetzt fragen Sie sich, was, zum Teufel, Sie hier sollen«, sagte Washington, als sie verschwunden waren. »Das verstehe ich. Schließlich sind Sie ein weißer Junge.«
Ich reagierte nicht. Er sollte sagen, was er zu sagen hatte.
»Sehen Sie das da drüben, das dritte von rechts? Dort haben
wir gewohnt. Ich im vierzehnten Stock mit meiner Großtante, und John mit seiner Mutter im zwölften, ein Stockwerk darunter. Einen
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