Jack McEvoy 01 - Der Poet
Ablenkungsmanöver.«
»Reich oder arm?«
»Er hat Geld. Muss welches haben. Wo auch immer er hinreist - er bleibt nicht lange dort. Kein Job - Morden ist sein Job.«
»Er muss also ein dickes Bankkonto haben oder reiche Eltern. Und er hat ein Auto, und er braucht Geld für Benzin im Tank.«
So ging es noch ungefähr zwanzig Minuten weiter. Brass machte sich Notizen für das vorläufige Profil. Dann beendete Backus die Sitzung und gab allen für die Nacht frei.
Als sich die Versammlung auflöste, kamen ein paar Leute zu mir, stellten sich vor und gaben ihrem Beileid zum Tod meines Bruders und ihrer Bewunderung für meine Ermittlungen Ausdruck. Aber es waren sehr wenige, und zu ihnen gehörten Doran und Hazelton. Nach ein paar Minuten stand ich allein da und sah mich nach Walling um. Da kam Gordon Thorson auf mich zu. Er streckte mir die Hand entgegen, und nach kurzem Zögern ergriff ich sie.
»Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten«, sagte er mit einem freundlichen Lächeln.
»Das ist schon in Ordnung. Es hat mir nichts ausgemacht.«
Er hatte einen festen Griff, und als ich nach dem üblichen Zwei-Sekunden-Händeschütteln versuchte, meine Hand zurückzuziehen, ließ er sie nicht los. Stattdessen zog er mich näher zu sich heran und beugte sich vor, damit nur ich hören konnte, was er als Nächstes zu sagen hatte.
»Nur gut, dass Ihr Bruder nicht hier ist und das mitansehen muss«, flüsterte er. »Wenn ich getan hätte, was Sie getan haben, um in diesen Fall hineinzukommen, würde ich mich schämen. Ich könnte mir selbst nicht mehr ins Gesicht sehen.«
Er richtete sich wieder auf, immer noch mit dem Lächeln im Gesicht. Ich sah ihn an und nickte aus einem mir unerfindlichen Grund. Da ließ er meine Hand fallen und verschwand.
Ich fühlte mich gedemütigt, weil ich mich nicht gewehrt hatte.
»Worum ging es?«
Ich drehte mich um. Es war Rachel Walling.
»Oh, nichts. Er hat nur ... nichts.«
»Was immer er gesagt hat, vergessen Sie’s. Er ist ein Arschloch.«
Ich nickte.
»Ja, der Gedanke ist mir auch schon gekommen.«
»So, und jetzt lassen Sie uns ins Besprechungszimmer zurückkehren. Ich bin halb verhungert.«
Unterwegs informierte sie mich über die Reisepläne.
»Wir brechen morgen ganz früh auf. Es ist besser, wenn Sie heute Nacht hier bleiben, anstatt die ganze Strecke zum Hilton zurückzufahren. Die meisten Besucher reisen Freitag ab, es sind also Zimmer frei. Wir könnten Sie in einem davon unterbringen, und das Hilton kann Ihre Sachen nach Denver schicken. Wäre das ein Problem?«
»Oh, nein, ich glaube ...«
Ich dachte immer noch an Thorson. »Scheiß drauf.«
»Wie bitte?«
»Dieser Kerl, Thorson. Er ist wirklich ein Arschloch.«
»Denken Sie nicht mehr an ihn. Wir reisen morgen ab, und er bleibt hier. Was ist mit dem Hilton?«
»Ja, in Ordnung. Meinen Laptop und alle wichtigen Unterlagen habe ich sowieso bei mir.«
»Ich werde zusehen, dass Sie morgen früh ein frisches Hemd bekommen.«
»Oh, mein Wagen. Ich habe einen Mietwagen in der Garage des Hilton.«
»Wo sind die Schlüssel?«
Ich zog sie aus der Hosentasche.
»Geben Sie sie mir. Wir kümmern uns darum.«
23
In den frühen Morgenstunden, als die Dämmerung erst eine schwache Andeutung hinter den Vorhängen war, schlich Gladden durch Darlenes Wohnung, zu nervös, um zu schlafen, zu aufgeregt, um es auch nur zu wollen. Er wanderte durch die kleinen Zimmer, denkend, planend, wartend. Er ging ins Schlafzimmer, schaute ein paar Augenblicke auf Darlene hinab und kehrte dann ins Wohnzimmer zurück.
Ungerahmte Plakate von alten Pornofilmen klebten an den Wänden. Die ganze Wohnung war voll von kitschigen Andenken an ein wertloses Leben. Auf allem lag ein Nikotinfilm. Gladden war Raucher, fand es aber trotzdem widerlich. Die Wohnung war ein Saustall.
Er blieb vor einem der Plakate stehen, für einen Film, der Inside Darlene hieß. Sie hatte ihm erzählt, dass sie in den frühen Achtzigern ein Star gewesen war, bevor die Video-Revolution einsetzte, ihr Körper alterte und um ihren Mund und die Augen herum die Strapazen des Lebens sichtbar wurden. Sie hatte mit einem traurigen Lächeln auf die Plakate gedeutet, auf deren retuschierten Fotos ihr Körper und ihr Gesicht noch glatt und faltenfrei aussahen. Sie wurde einfach als Darlene angepriesen. Nachname nicht erforderlich. Er fragte sich, wie es war, in einer Wohnung zu leben, in der die Fotos von einem glanzvollen früheren Selbst das gegenwärtige verspotteten.
Er
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