Jack McEvoy 01 - Der Poet
schlaflose Nächte bereitet. Wir nehmen an, dass der Poet dann jeden dieser Männer beobachtet und sich mit seinen Gewohnheiten vertraut gemacht hat. Das ermöglich te es ihm, nahe an sie heranzukommen und sie schließlich zu ermorden, ohne entdeckt zu werden.«
Diese Ansicht brachte alle im Raum zum Verstummen. Ich hatte das Gefühl, dass viele der Agenten, selbst die, die schon häufig bei Serienmorden ermittelt hatten, noch nie mit einem Unmenschen wie dem zu tun gehabt hatten, den sie den Poeten nannten.
»Natürlich«, sagte Brass, »sind Theorien im Augenblick alles, was wir haben.«
Backus stand auf.
»Danke, Brass«, sagte er, dann wandte er sich an alle. »Und jetzt schnell, weil ich noch eine Menge zu tun habe. Gordon, Sie hatten noch etwas für uns.«
»Ja, ganz kurz nur«, sagte Thorson. Er stand auf und trat vor ein Flip-chart. »Die Karte in Ihren Unterlagen ist überholt, wegen der Sache in Baltimore. Deshalb bitte ich für einen Moment um Ihre Aufmerksamkeit.«
Er zeichnete rasch mit einem dicken schwarzen Stift die Umrisse der Vereinigten Staaten. Dann begann er, mit einem roten Stift die Spur des Poeten zu verfolgen. Er begann in Florida, führte die Linie hinauf nach Baltimore, dann hinüber nach Chicago, dann hinunter nach Dallas, dann hinüber nach Albuquerque und schließlich noch weiter hinauf nach Denver. Er griff wieder nach dem schwarzen Stift und trug die Todesdaten sämtlicher Opfer ein.
»Ich meine, das spricht für sich«, sagte Thorson. »Unser Mann ist auf dem Weg nach Westen, und er hat offensichtlich aus irgendeinem Grund eine Stinkwut auf Detectives in Mordkommissionen.«
Er fuhr mit der Hand über die westliche Hälfte des Landes.
»Dort müssen wir nach seinen nächsten Mordopfern Ausschau halten, es sei denn, wir haben Glück und erwischen ihn vorher.«
Das Betrachten des Endpunktes der roten Linie, die Thorson gezeichnet hatte, flößte mir ein unbehagliches Gefühl ein.
Wo war der Poet? Wer war der Nächste?
»Warum lassen wir ihn nicht einfach nach Kalifornien reisen, damit er unter seinesgleichen ist? Ende des Problems.«
Alle lachten über den Witz, der von einem im äußeren Kreis sitzenden Agenten gekommen war. Hazelton griff ihn auf.
»Hey, Gordo«, sagte er, langte nach hinten zur Staffelei und tippte mit einem Stift auf Florida, das ein bisschen klein geraten war. »Ich hoffe, diese Karte war nicht eine Freud’sche Fehlleistung von Ihnen.«
Diese Bemerkung löste noch lauteres Gelächter aus, und Thorsons Gesicht rötete sich, obwohl er gequält lächelte. Rachel Wallings Gesicht strahlte vor Schadenfreude.
»Sehr komisch, Hazel«, entgegnete Thorson laut. »Wie wär‘ss, wenn Sie wieder Gedichte analysieren würden. Darin sind Sie gut.«
Das Gelächter verstummte rasch, und ich vermutete, dass Thorson mit seinen Worten einen Pfeil auf Hazelton abgeschossen hatte, der eher persönlich als witzig gemeint war.
»Wenn ich fortfahren darf«, sagte Thorson. »Wir werden noch heute Abend alle Field Offices, besonders die im Westen, anweisen, die Augen offen zu halten. Es würde uns eine Menge helfen, wenn wir frühzeitig über einen möglichen weiteren Mord informiert werden und unsere Spurensicherung sofort an den Tatort schicken könnten. Wir werden ein Team bereitstellen. Aber bis dahin müssen wir uns in jeder Hinsicht auf die Leute vor Ort verlassen. Bob?«
Backus räusperte sich und ergriff wieder das Wort.
»Wenn sonst nichts anliegt, kommen wir zur Personenbeschreibung. Was können wir über diesen Täter sagen? Ich würde den Leuten, die Gordon ausschickt, gern etwas an die Hand geben.«
Es folgte ein Sammelsurium an Hinweisen, viele davon völlig aus der Luft gegriffen, und einige lösten sogar Gelächter aus.
Das Profil, das auf diese Weise zustande kam, würde bei der Suche nach dem Poeten nicht viel nützen. Die Verallgemeinerungen, die die Agenten in den Ring warfen, waren überwiegend Beschreibungen des seelischen Zustands. Wut. Isolation. Überdurchschnittliche Bildung und Intelligenz. Wie identifiziert man diese Dinge an Einzelnen in Menschenmassen?, fragte ich mich. Aussichtslos.
Hin und wieder warf Backus eine Bemerkung in die Runde, um die Diskussion wieder auf den richtigen Kurs zu bringen.
»Wenn Sie Brass’ letzter Theorie zustimmen, weshalb tötet er dann Cops aus Mordkommissionen?«
»Wenn Sie diese Frage beantworten können, haben Sie ihn in der Tasche. Das ist das eigentliche Geheimnis. Das mit den Gedichten ist nur ein
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