Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
verlegen. »Das habe ich erfunden. In Wirklichkeit bin ich mit meiner Arbeit völlig auf dem Laufenden. Sie haben mir vorgeschlagen, die ganze Woche freizunehmen. Ich hatte bloß keine Lust, mit dir herumzuhängen und dich vergeblich anzuhimmeln. Deshalb bin ich am ersten Abend einfach ins Bett geflüchtet. Ich hätte dir natürlich das Gästezimmer zeigen sollen, wie man’s als perfekte Gastgeberin tut. Aber ich wollte nicht mit dir in einem Schlafzimmer allein sein. Das hätte mich verrückt gemacht. So nah und doch so fern, du weißt schon, was ich meine?«
Er nickte. »Und was hast du dann den ganzen Tag im Büro gemacht?«
Sie kicherte. »Nichts. Ich bin einfach dagesessen und habe Löcher in die Luft geguckt.«
»Du spinnst«, sagte er. »Warum hast du’s mir nicht einfach erzählt?«
»Warum hast du’s mir nicht einfach erzählt?«
»Ich hab’s dir erzählt.«
»Zu guter Letzt«, sagte sie. »Nach fünfzehn Jahren.«
Er nickte. »Ich weiß, aber ich hatte nicht den Mut dazu. Ich dachte, du wärst vielleicht gekränkt oder sonst was.«
»Dito«, sagte sie. »Ich dachte, du würdest mich dafür hassen.«
Sie sahen sich an, lächelten, grinsten. Dann lachten sie schallend, bis ihnen die Tränen kamen.
»Ich ziehe mich jetzt an«, sagte sie noch immer lachend. Er folgte ihr ins Schlafzimmer und sammelte seine Sachen vom Fußboden auf. Sie verschwand halb in ihrem Einbaukleiderschrank. Während er sie beobachtete, fragte er sich, ob es in Leons Haus auch Einbauschränke gab. Nein, ob es in seinem Haus welche gab. Natürlich. Praktisch alle Häuser besaßen Einbauschränke. Hieß das, dass er sich allmählich Zeug anschaffen musste, mit dem er sie füllen konnte?
Jodie entschied sich für Jeans und eine Bluse, ergänzte ihr Outfit mit einem geflochtenen Ledergürtel und teuren italienischen Schuhen. Er zog sich an, schlüpfte in der Diele in seine neue Jacke und steckte die Steyr aus der Sporttasche in die linke Innentasche. Ungefähr zwanzig lose Patronen kippte er in die andere Tasche. Das viele Metall machte seine Jacke bleischwer. Jodie kam mit der Ledermappe der Hobies in die Diele. Sie hatte darin noch einmal die von Rutter angegebene Adresse nachgesehen.
»Fertig?«, fragte sie.
»Von mir aus kann’s losgehen«, antwortete er.
Er ließ sie wieder mehrmals warten, während er sich davon überzeugte, dass ihnen niemand auflauerte. Das gleiche Verfahren wie am Vortag. Da war ihm ihre Sicherheit wichtig gewesen, heute erschien sie ihm lebenswichtig. Aber alles war leer und still. Leerer Flur, leerer Aufzug, leere Eingangshalle, leere Garage. Sie stiegen in den Taurus. Jodie fuhr einmal um den Block und dann nach Nordosten.
»East River Drive zur I-95, okay?«, fragte sie. »In Ostrichtung ist das der Cross Bronx Expressway.«
Er zuckte mit den Schultern und versuchte, sich an den Stadtplan zu erinnern. »Anschließend auf dem Bronx River Parkway nach Norden. Wir müssen zum Zoo.«
»Zum Zoo? Rutter wohnt nicht in der Nähe des Zoos.«
»Nicht wirklich zum Zoo. Zum Botanischen Garten. Ich muss dir dort was zeigen.«
Sie warf ihm einen fragenden Blick zu, dann konzentrierte sie sich wieder auf die Straße. Der Verkehr war dicht, stockte aber wenigstens nicht. Sie folgten dem Fluss nach Norden, dann nach Nordwesten zur George Washington Bridge, ließen sie hinter sich und fuhren nach Osten in die Bronx. Auf dem Expressway kamen sie nur langsam voran, aber auf dem Parkway nach Norden floss der Verkehr wieder rascher, weil er aus New York hinausführte. Auf der Gegenspur staute sich der Verkehr in Richtung Süden.
»Okay, wohin?«, wollte sie wissen.
»An der Fordham University vorbei. Zum Palmenhaus. Dort parken wir.«
Sie nickte und wechselte mehrfach die Fahrspur. Die Universität glitt links an ihnen vorüber, dann wurde rechts das Palmenhaus des Botanischen Gartens sichtbar. Jodie benutzte die Museumseinfahrt und bog auf den Parkplatz gleich dahinter ab. Um diese Zeit war er weitgehend leer.
»Und jetzt?«
Er nahm die Ledermappe mit.
»Lass dich überraschen!«, sagte er.
Das Palmenhaus lag etwa hundert Meter vor ihnen. Was es darüber zu wissen gab, hatte er gestern auf einem kostenlosen Handzettel nachgelesen. Es war nach seiner Stifterin Enid Haupt benannt, hatte bei seinem Bau im Jahr 1902 ein Vermögen gekostet und war fünfundneunzig Jahre später fürs Zehnfache dieser Summe renoviert worden - gut angelegtes Geld, weil das Ergebnis großartig war. Ein riesiger, reich
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