Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
wird schon was einfallen.«
Er drückte nochmals ihre Hand, lehnte den Hinterkopf an die Wand und schloss die Augen.
»Tut mir alles schrecklich Leid«, wiederholte er.
Marilyn äußerte sich nicht dazu. Sie strich nur die dünne Seide über ihren Oberschenkeln glatt, blickte ins Leere und dachte angestrengt nach.
Die Sonne verschwand, bevor sie ihren zweiten Höhepunkt erreichten. Sie wurde zu einem hellen Lichtstrahl, der seitlich vom Fenster weg glitt, dann zu einem schmalen waagrechten Streifen, in dem Sonnenstäubchen tanzten, während er sich langsam über die weiße Wand bewegte. Zuletzt verschwand sie, als sei ein Lichtschalter betätigt worden, und ließ den Raum in angenehm kühler Abenddämmerung zurück. Die beiden lagen wohlig erschöpft und aneinander geschmiegt auf dem zerwühlten Laken. Dann stützte sich Jodie auf einen Ellbogen und bedachte ihn mit dem gleichen leicht ironischen Lächeln wie am Morgen vor ihrem Bürogebäude.
»Was gibt’s?«, fragte er.
»Ich hab dir etwas mitzuteilen«, sagte sie.
Er wartete.
»In meiner offiziellen Eigenschaft.«
Er konzentrierte sich auf ihr Gesicht. Sie lächelte noch immer. Ihre Zähne waren weiß, und ihre blauen Augen leuchteten. In welcher offiziellen Eigenschaft?, fragte er sich. Sie war eine Anwältin, die Vermittlerdienste leistete, wenn jemand eine Menge Schulden hatte.
»Ich bin schuldenfrei«, sagte er. »Und meines Wissens krieg ich von niemandem Geld.«
Sie schüttelte den Kopf. Lächelte noch immer. »Nein, als Dads Testamentsvollstreckerin.«
Er nickte. Verständlich, dass Leon sie als Anwältin dazu ernannt hatte.
»Ich habe das Testament geöffnet und gelesen«, sagte sie. »Heute im Büro.«
»Und was steht drin? Dass er heimlich Schätze angehäuft hat? Ein Milliardenvermögen hinterlässt, von dem niemand wusste?«
Sie schüttelte erneut den Kopf. Schwieg.
»Er hat gewusst, was aus Victor Hobie geworden ist, und alles in sein Testament geschrieben?«
»Er hat dir etwas hinterlassen. Ein Vermächtnis.«
Er nickte. Auch das war nur verständlich. Es entsprach ganz Leons Art. Er würde an seinen alten Freund denken und ihm irgendeine Kleinigkeit mit Erinnerungswert vermachen. Aber was ? Er überlegte, um was es sich dabei handeln konnte. Etwas, das ihn an Leon erinnern sollte. Vielleicht seine Orden? Vielleicht das Scharfschützengewehr, das er aus Korea mitgebracht hatte? Es war ein Mauser, ein altes deutsches Gewehr, das die Sowjets vermutlich an der Ostfront erbeutet und zehn Jahre später ihren nordkoreanischen Schützlingen verkauft hatten. Eine verdammt gute Waffe. Leon und er hatten oft darüber spekuliert, wo sie überall im Einsatz gewesen sein mochte. Ja, dieses Gewehr wäre ein schönes Andenken. Aber wo, zum Teufel, sollte er es aufbewahren?
»Er hat dir sein Haus hinterlassen«, sagte sie.
»Sein was?«
»Sein Haus«, wiederholte sie. »In dem du warst, droben in Garrison.«
Er starrte sie verständnislos an. »Sein Haus?«
Sie nickte lächelnd.
»Das kann ich nicht glauben«, sagte er. »Und ich kann es nicht annehmen. Was täte ich damit?«
»Was du damit tun sollst? Du sollst darin leben, Reacher. Dafür sind Häuser da, oder nicht?«
»Aber ich lebe nicht in Häusern«, wandte er ein. »Ich habe noch nie in einem Haus gelebt.«
»Nun, jetzt kannst du in einem leben.«
Er schwieg einen Augenblick. Dann schüttelte er den Kopf. »Jodie, das Haus kann ich unmöglich annehmen. Es gehört dir. Er hätte es dir hinterlassen sollen. Es gehört zu deinem Erbe.«
»Ich will’s nicht haben«, sagte sie einfach. »Das hat er gewusst. Mir gefällt’s in der Stadt besser.«
»Okay, dann verkaufst du’s eben. Aber es gehört dir. Du verkaufst es und behältst das Geld.«
»Ich brauche kein Geld. Auch das hat er gewusst. Es ist weniger wert, als ich im Jahr verdiene.«
Er hob die Augenbrauen. »Ich dachte, das dort draußen sei eine teure Wohngegend, direkt am Fluss?«
Sie nickte. »Stimmt.«
Er war verwirrt.
»Sein Haus?«, fragte er nochmals.
Sie nickte.
»Hast du gewusst, dass er das vorhatte?«
»Nicht richtig«, sagte sie. »Aber ich wusste, dass Dad es nicht mir vermachen würde. Ich dachte, er erwartet, dass ich das Haus verkaufe und den Erlös für wohltätige Zwecke spende. Für alte Soldaten, was in der Art.«
»Okay, dann solltest du das tun.«
Sie lächelte wieder. »Das kann ich nicht, Reacher. Darüber habe ich nicht zu entscheiden. Das Vermächtnis steht in seinem Testament. Ich kann
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