Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
Spezialausbildung. Im Umgang mit Waffen hatte er die Note »gut« erhalten, was in Polk etwas bedeutete. In Dix war man gut, wenn man ein Gewehr aus zehn Schritt Entfernung erkannte; in Polk setzte das ein gutes Auge, exzellente Körperbeherrschung und ein ausgeglichenes Temperament voraus. Reacher verstand nicht viel von Fliegerei, aber er vermutete, dass die Ausbilder keine Bedenken gehabt hätten, diesem Jungen einen Hubschrauber anzuvertrauen.
Dann wieder eine Quittung für Reisegutscheine, diesmal nach Fort Wolters in Texas, wo die Hubschrauber-Grundausbildung der U.S. Army stattfand. Angehängt war ein Vermerk des Kommandeurs von Fort Polk, in dem festgehalten war, Hobie habe auf eine Woche Urlaub verzichtet, um gleich nach Texas zu reisen. Diese nüchterne Feststellung enthielt einen anerkennenden Unterton, der sich selbst nach so vielen Jahren noch heraushören ließ. Dies war ein Junge, der es kaum erwarten konnte, endlich Dienst zu tun.
In Wolters wurden die schriftlichen Unterlagen zahlreicher. Der Grundkurs, der wie ein anspruchsvoller Studiengang organisiert war, dauerte fünf Monate. Im ersten Monat wurden Physik, Aerodynamik und Navigation gelehrt und anschließend geprüft. Damit hatte Hobie keine Schwierigkeiten gehabt. Dank seiner mathematischen Begabung, die sein Vater für seine Buchhaltung hatte nutzen wollen, waren diese trockenen Fachgebiete für ihn ein Kinderspiel gewesen. Er hatte als Lehrgangsbester abgeschnitten. Negativ war lediglich eine kurze Anmerkung zu seiner inneren Einstellung. Irgendein Offizier kritisierte ihn, weil er Nachhilfeunterricht gegen Gefälligkeiten erteilte. Hobie gab weniger begabten Kameraden Privatstunden, und sie putzten ihm dafür die Stiefel und hielten seine Ausrüstung in Schuss. Reacher zuckte mit den Schultern. Dieser Offizier war offensichtlich ein Arschloch gewesen. Hobie wollte Hubschrauberpilot, kein Heiliger werden.
Die nächsten vier Monate in Wolters umfassten die Flugausbildung, anfangs auf Hiller OH-23 Raven. Hobies erster Ausbilder, ein Mann namens Lanark, hatte seine Beurteilungen wild hingeschmiert; sie klangen sehr anekdotisch, sehr unmilitärisch, manchmal auch amüsant. Er behauptete, einen Hubschrauber lerne man fliegen, wie man als kleiner Junge Rad fahren lerne: Man falle immer wieder herunter, bis man’s plötzlich kapiere und nie wieder verlerne. Lanark fand, Hobie habe dazu vielleicht länger gebraucht als unbedingt nötig, aber danach verbesserten sich seine Leistungen ständig. Als nächste Maschine durfte Hobie die Sikorsky H-19 Chickasaw fliegen. Sie lag ihm besser als die Hiller. Er war ein Naturtalent, das an seinen Aufgaben wuchs.
Hobie schloss in Wolters als ausgezeichnet beurteilter Lehrgangszweiter ab - dicht hinter einem Ass namens A. A. DeWitt. Weitere Reisegutscheine zeigten, dass die beiden gemeinsam zur viermonatigen Ausbildung für Fortgeschrittene nach Fort Rucker gereist waren.
»Kenne ich diesen DeWitt nicht von irgendwoher?«, fragte Reacher. »Der Name kommt mir bekannt vor.«
Conrad las den für ihn auf dem Kopf stehenden Namen.
»Das könnte General DeWitt sein«, erwiderte er. »Er ist jetzt Kommandeur der Hubschrauberschule in Wolters. Das wäre nur logisch, oder? Augenblick, das haben wir gleich.«
Er rief im Archiv an und forderte die Akte Generalmajor A. A. DeWitt an. Als er den Hörer auflegte, sah er auf seine Uhr. »Das müsste schneller gehen, weil der Weg von seinem Schreibtisch zur Abteilung D näher ist als der zur Abteilung H. Außer die Sergeantin hält ihn wieder auf.«
Reacher lächelte und kehrte dann in die Zeit vor dreißig Jahren zurück. Fort Rucker bedeutete einen weiteren Fortschritt, denn dort wurde auf dem ganz neuen Kampfhubschrauber Bell UH-1 Iroquois - Spitzname »Huey« - ausgebildet. Große, leistungsfähige Maschinen, Propellerturbinen, das unvergessliche Wup-wup-wup von Rotorblättern, die fast sieben Meter lang und über einen halben Meter breit waren. Mit diesem Typ war der junge Victor Hobie sechzehn lange Wochen durch den Himmel Alabamas geturnt, bevor er an dem Tag, an dem sein Vater ihn fotografiert hatte, seine Ausbildung mit Auszeichnung abschloss.
»Drei Minuten vierzig Sekunden«, flüsterte Conrad.
Der Gefreite trat mit der Akte DeWitt ein. Conrad nahm sie entgegen. Der Gefreite grüßte, machte kehrt und trat ab.
»Die darf ich Sie nicht sehen lassen«, erklärte Conrad. »Der General ist noch aktiver Offizier. Aber ich sage Ihnen, ob er derselbe DeWitt
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