Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
befanden sie sich in dem angenehm kühlen Wachgebäude. Der MP-Sergeant telefonierte mit dem Adjutanten des Kommandeurs im Stabsgebäude.
»Okay, Sie sind gebucht«, sagte er. »Der General hat in einer halben Stunde Zeit für Sie.«
Reacher lächelte. DeWitt hatte bestimmt schon jetzt Zeit, aber er brauchte diese halbe Stunde, um nachprüfen zu lassen, ob diese unbekannten Besucher wirklich die Leute waren, die sie zu sein behaupteten.
»Was für ein Mensch ist der General, Sergeant?«, fragte er.
»Wir würden ihn als MEV einstufen, Sir«, sagte der Mann und grinste.
Reacher grinste ebenfalls. Hier im Wachgebäude fühlte er sich wohl. Fast wie zu Hause. MEV war der MP-Code für »manchmal ein Vollidiot« - eine halbwegs wohlwollende Beurteilung eines Generals durch einen Sergeant. Diese Einstufung bedeutete, dass DeWitt vermutlich kooperationsbereit sein würde, wenn sie es richtig anfingen. Oder auch nicht. Darüber konnte Reacher sich den Kopf zerbrechen, während sie warteten.
Nach genau einer halben Stunde fuhr ein schlichter olivgrüner Chevy vor, und der Sergeant nickte zu dem Wagen hinaus. Der Fahrer war ein junger Gefreiter, der offenbar beschlossen hatte, nicht zu reden. Er wartete einfach, bis sie eingestiegen waren, wendete dann und fuhr langsam auf der Straße zwischen den Gebäuden zurück. Reacher sah vertraute Bilder vorbeiziehen. Er kannte Wolters nicht, aber der Stützpunkt war ihm nicht fremd, weil er wie Dutzende anderer Einrichtungen, in denen er Dienst getan hatte, aussah. Die gleichen Leute, die gleichen Straßen, die gleiche Anordnung der Gebäude, als wären sie alle nach demselben Plan erbaut. Das Stabsgebäude war ein langer einstöckiger Klinkerbau an der Längsseite des Exerzierplatzes. Äußerlich glich es genau dem des Stützpunkts in Berlin, wo er das Licht der Welt erblickt hatte. Nur das Wetter war hier anders.
Der Chevy hielt neben der ins Stabsgebäude hinaufführenden breiten Treppe. Der Fahrer ließ den Motor laufen und starrte schweigend nach vorn durch die Windschutzscheibe. Reacher und Jodie stiegen aus.
»Danke fürs Mitnehmen, Soldat«, sagte Reacher.
Der junge Mann saß einfach da und starrte weiter schweigend geradeaus. Reacher und Jodie gingen die Treppe hinauf und durch die Tür. In der klimatisierten Eingangshalle war ein Gefreiter der Militärpolizei mit weißem Helm und weißen Gamaschen postiert. Er hielt ein blitzblank geputztes M-16 schräg vor seiner Brust. Sein Blick war auf Jodies Beine gerichtet.
»Reacher und Garber zum Termin bei General DeWitt«, meldete Reacher.
Der Gefreite riss das Gewehr hoch und hielt es senkrecht, als öffne er damit symbolisch eine Schranke. Reacher nickte dankend und ging an ihm vorbei zur Treppe. Wie jedes andere Stabsgebäude war dieser Bau nach Vorgaben errichtet, die sich zwischen Luxus und Funktionalität bewegten. Es war vorbildlich sauber und aus bestem Material erbaut, aber die Ausstattung war militärisch nüchtern. Oben an der Treppe stand ein Schreibtisch, an dem ein rundlicher MP-Sergeant hinter Aktenbergen saß. Dahinter befand sich eine Eichentür mit einer ziemlich großen Plexiglastafel, auf der DeWitts Name, sein Dienstgrad und seine Auszeichnungen angegeben waren.
»Reacher und Garber zum Termin beim General«, wiederholte Reacher.
Der Sergeant nickte und griff zum Telefonhörer. Er drückte auf einen Knopf.
»Ihre Besucher, Sir«, sagte er.
Dann stand er auf, öffnete die Tür, trat zur Seite, um die Besucher eintreten zu lassen, und schloss sie wieder. Das Dienstzimmer hatte die Größe eines Tennisplatzes. Es war mit Eichenholz getäfelt und mit einem riesigen, teilweise schon abgetretenen Orientteppich ausgelegt. Hinter dem großen Schreibtisch saß DeWitt in einem Ledersessel. Er war Anfang bis Mitte fünfzig, hager und drahtig, mit schütter werdendem grauen Haar, das er sehr kurz trug. Seine grauen Augen beobachteten ihr Näherkommen mit einem Ausdruck, den Reacher als eine Mischung aus Neugier und Gereiztheit deutete.
»Nehmen Sie Platz«, sagte er. »Bitte.«
Die beiden setzten sich in die Besuchersessel vor dem Schreibtisch. An den Wänden des Dienstzimmers hingen dicht an dicht Erinnerungsstücke: Andenken an Bataillone und Divisionen, bei Manövern errungene Preise, Fahnenbänder und vergilbende alte Schwarzweißfotos. Dazwischen Aufnahmen und Schnittzeichnungen von einem Dutzend Hubschraubertypen. Aber keine Fotos, die nur DeWitt zeigten. Nicht einmal Familienbilder auf dem
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