Jack Reacher 03: Sein wahres Gesicht
Krawatte.
»Danke«, sagte er.
Sie half ihm, den Anzug anzuziehen.
»Dein Haar«, sagte sie.
Er trat an den Spiegel über dem Waschbecken und sah darin den Mann, der er in einem anderen Leben gewesen war. Dann fuhr er sich mit den Fingern durchs Haar, um es in Ordnung zu bringen. Die Toilettentür öffnete sich wieder, und Tony kam herein. Er hielt den Montblanc-Füller in der Hand.
»Den leihen wir Ihnen heute noch mal, damit Sie den Ubereignungsvertrag unterschreiben können.«
Chester nickte, nahm den Füller und steckte ihn in die Brusttasche seines Jacketts.
»Und die hier. Wir müssen den Schein wahren, stimmt’s? Wenn’s hier von Anwälten wimmelt.« Das war die Rolex aus Platin. Chester nahm sie entgegen und streifte sie über die linke Hand. Tony verließ den Raum und schloss die Tür hinter sich. Marilyn stand vor dem Spiegel und frisierte sich mit den Fingern. Sie presste die Lippen zusammen, als habe sie Lippenstift aufgelegt. Es war eine instinktive Handlung. Anschließend strich sie ihr Kleid über Hüften und Oberschenkeln glatt.
»Bist du bereit?«, fragte sie.
Chester zuckte mit den Schultern. »Wofür? Bist du’s?«
»Ja«, sagte sie.
Der Chauffeur von Spencer Gutman Ricker & Talbot war mit einer der am längsten bei der Firma beschäftigten Sekretärinnen verheiratet. Er hatte einen belanglosen kleinen Bürojob gehabt, der bei der Übernahme seiner Firma durch einen skrupellosen Konkurrenten gestrichen worden war. Neunundfünfzig und arbeitslos, ohne besondere Fähigkeiten, ohne Perspektive - also hatte er seine Abfindung für einen gebrauchten Lincoln Town Car ausgegeben, und seine Frau hatte eine Kosten-Nutzen-Rechnung vorgelegt, die zeigte, dass es für die Firma billiger war, ihn fest zu beschäftigen, statt von Fall zu Fall eine Limousine mit Chauffeur zu mieten. Die Anwälte hatten die Rechenfehler darin großzügig übersehen und ihn angestellt. Um einer bewährten Mitarbeiterin einen Gefallen zu tun und weil es wirklich bequemer war, einen eigenen Chauffeur zu haben. Deshalb wartete der Mann jetzt in der Tiefgarage mit laufendem Motor und voll aufgedrehter Klimaanlage, als Jodie aus dem Aufzug kam und auf ihn zuging.
»Sie wissen, wohin wir müssen?«, fragte sie.
Er nickte und tippte auf das auf dem Beifahrersitz liegende Klemmbrett.
»Ich weiß Bescheid«, antwortete er.
Jodie stieg im Fond ein. Eigentlich hätte sie lieber vorn bei ihm gesessen, aber er bestand darauf, dass Fahrgäste hinten Platz nahmen. Er war ein sensibler Mensch und wusste, dass er zum größten Teil aus sozialen Gründen eingestellt worden war. Jetzt nahm er an, dass korrektes Benehmen seinen Status erhöhen würde. Er trug einen dunklen Anzug und eine Chauffeursmütze, die er in einem Geschäft für Berufskleidung in Brooklyn aufgestöbert hatte.
Sobald er im Rückspiegel sah, dass Jodie bequem saß, fuhr er los. Die Ausfahrt lag hinter dem Gebäude, sodass sie auf dem Exchange Place herauskamen. Er lenkte den Wagen nach links auf den Broadway und wechselte dann die Fahrspuren, um nach rechts in die Trinity Street abzubiegen. Er folgte dieser Straße nach Westen und bog erneut ab, um das World Trade Center von Süden zu erreichen. Auf Höhe der Trinity Church stockte der Verkehr, weil zwei Fahrspuren durch einen NYPD-Abschlepp- und einen Streifenwagen blockiert waren. Cops starrten in die dort parkenden Autos, als seien sie wegen irgendeiner Sache in Zweifel. Er fuhr langsam an ihnen vorüber und beschleunigte wieder. Bremste dann und hielt an der Plaza.
»Ich warte hier«, sagte er.
Jodie stieg aus und blieb einen Augenblick stehen. Die Plaza war riesig und ziemlich belebt. Es war dreizehn Uhr fünfundfünfzig, und die Leute, die außerhalb gegessen hatten, kehrten in ihre Büros zurück. Sie war ziemlich nervös. Seit die ganze Geschichte begonnen hatte, war dies das erste Mal, dass sie sich, ohne von Reacher beschützt zu werden, in der Öffentlichkeit bewegte. Sie sah sich um, schloss sich einer Gruppe dahinhastender Menschen an und ging mit ihr bis zum Südturm.
Die in ihren Unterlagen angegebene Adresse befand sich im siebenundachtzigsten Stock. Sie stellte sich in der Schlange am Expressaufzug an und stand dort hinter einem mittelgroßen Mann in einem schlecht sitzenden schwarzen Anzug. In einer Hand trug er einen billigen Aktenkoffer, der mit braunem Kunstleder überzogen war, das durch ein eingeprägtes Muster wie Krokodilleder aussehen sollte. Sie quetschte sich hinter ihm in den
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