Jack Reacher 09: Sniper
packte das gerade Ende des Schlosses, das den U-förmigen Bügel begrenzte. Zog daran, erst nur wenig, dann kräftiger. Die Torflügel sackten ihm entgegen, dann bewegten sie sich nicht mehr. Er legte eine Hand flach auf das Holz und drückte die Flügel zurück. Hielt sie mit dem gestreckten linken Arm geschlossen und riss mit der rechten Hand am Schloss. Die Schrauben gaben etwas nach, aber nicht viel. Wahrscheinlich hatte Jeb Beilagescheiben unter die Muttern gelegt. Große Scheiben, die den ausgeübten Zug gleichmäßig verteilten.
Er dachte: Okay, mehr Zug.
Indem er den unteren Teil des Bügelschlosses mit beiden Händen umklammerte, lehnte er sich wie ein Wasserskiläufer zurück. Zog aus Leibeskräften und trat dabei gegen das Holz unter den Bügeln. Da seine Beine länger waren als seine Arme, stand er zusammengekrümmt da, und sein Tritt fiel nicht sehr kräftig aus. Aber er war stark genug. Das alte Holz splitterte ein wenig, und irgendetwas gab einen Zentimeter nach. Er packte erneut zu und wiederholte den Vorgang. Etwas gab noch mehr nach. Dann zersplitterte eine Planke des linken Torflügels ganz, und zwei Schrauben rissen heraus. Reacher legte die linke Hand flach auf das Holz und griff mit der Rechten in den Spalt. Dann holte er tief Luft, zählte bis drei und riss mit aller Kraft daran. Die letzte Schraube wurde herausgezogen, das Schloss fiel zu Boden, die Torflügel sackten nach vorn und standen nun offen. Reacher trat zur Seite und drückte sie ganz an die Scheunenwand, sodass Sonnenlicht in das Innere fiel.
Wahrscheinlich hatte er erwartet, hier ein Meth-Labor zu finden, vielleicht mit Arbeitstischen, Retorten, Waagen, Propanbrennern und Stapeln von neuen Plastiktüten für das fertige Produkt. Oder einen großen Warenvorrat, der zur Verteilung bereitlag.
Aber er sah nichts dergleichen.
Helles Sonnenlicht fiel in Streifen durch lange senkrechte Schlitze. Die Scheune maß innen ungefähr sechs mal zwölf Meter. Ihr Boden bestand aus festgestampfter, sauber abgekehrter Erde. Sie war völlig leer bis auf einen klapprigen Pick-up, der exakt in der Mitte des Raumes stand.
Der Pick-up, ein mehrere Jahre alter Chevy Silverado. Er war hellbraun wie gebrannter Ton. Ein Arbeitsfahrzeug mit einfachster Grundausstattung. Kunstledersitze, Stahlfelgen, keine überbreiten Reifen. Die Ladefläche war sauber, aber verkratzt und zerbeult. Der Wagen hatte keine Kennzeichen. Die Türen waren abgesperrt, aber ein Schlüssel war nirgends zu sehen.
»Was ist das?«
Reacher drehte sich um und bemerkte Jeb Olivers Mutter hinter sich stehen. Sie klammerte sich mit einer Hand am Torrahmen fest, als schrecke sie davor zurück, die Schwelle zu überschreiten.
»Ein Pick-up«, sagte Reacher.
»Das sehe ich.«
»Gehört er Jeb?«
»Ich hab ihn noch nie gesehen.«
»Was hat er vor dem großen roten Ding gefahren?«
»Nicht diesen.«
Reacher trat näher an den Pick-up heran und spähte durchs Fahrerfenster. Handschaltung. Staub und Dreck. Hoher Tachostand. Aber kein Müll. Der Pick-up war jemandes treuer Diener gewesen – benutzt, aber nicht missbraucht.
»Ich hab ihn noch nie gesehen«, wiederholte die Frau.
Der Chevy schien schon lange hier zu stehen. Seine Reifen waren weich, hatten Luft verloren. Er roch nicht nach Öl oder Benzin und war mit Staub bedeckt.
Reacher kniete sich hin und schaute unter den Wagen. Nichts zu sehen. Nur ein mit angetrocknetem Schmutz überzogener Fahrzeugrahmen voller Schrammen und Steinschlagspuren.
»Wie lange steht die Kiste schon hier?«, fragte er vom Boden aus.
»Weiß ich nicht.«
»Wann hat er das Schloss am Tor angebracht?«
»Vor ungefähr zwei Monaten.«
Reacher stand wieder auf.
»Was haben Sie hier zu finden erwartet?«, fragte die Frau.
Reacher drehte sich um und blickte ihr in die Augen. Die Pupillen waren unnatürlich vergrößert.
»Mehr von dem Zeug, das Ihr Frühstück gewesen ist«, antwortete er.
Sie lächelte. »Sie dachten, Jeb hätte hier drinnen Meth gekocht?«
»Hat er’s nicht getan?«
»Sein Stiefvater bringt es vorbei.«
»Sind Sie verheiratet?«
»Nicht mehr. Aber er bringt es trotzdem noch vorbei.«
»Jeb war am Montagabend high«, sagte Reacher.
Die Frau lächelte wieder. »Eine Mutter kann mit ihrem Kind teilen, stimmt’s? Wozu sind Mütter sonst da?«
Reacher wandte sich ab und betrachtete erneut das Fahrzeug. »Wieso hat er diesen alten Truck hier drinnen eingesperrt und den neuen Wagen draußen in Wind und Wetter stehen
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