Jack Reacher 09: Sniper
Schiff kam auch die Tänzerin aus Norwegen. Reacher vermutete, dass sie fürs Ballett zu groß war, aber sie besaß die richtige Größe für alles andere. Sie hatten sich nachmittags am Strand kennengelernt, wo Reacher seine Sonnenbräune auffrischte. Er fühlte sich gebräunt wohler. Was sie an den Strand geführt hatte, wusste er nicht. Aber er spürte ihren Schatten über sein Gesicht fallen, öffnete die Augen und sah, dass sie ihn anstarrte. Oder vielleicht seine Narben. Je brauner er wurde, desto deutlicher zeichneten sie sich ab: weiß und schlimm und unübersehbar. Sie war blass und trug einen schwarzen Bikini. Einen kleinen schwarzen Bikini. Er wusste längst, welchen Beruf sie hatte, bevor sie ihm erzählte, dass sie Tänzerin war. Das sah man an ihrer Haltung.
Die beiden kamen ins Gespräch, was dazu führte, dass sie nach einem späten gemeinsamen Abendessen in den Klub ausgingen. Salsa in South Beach wäre nicht Reachers erste Wahl gewesen, aber ihre Gesellschaft war ihm das wert. Es machte Spaß, mit ihr zusammen zu sein. Und sie war natürlich eine großartige Tänzerin. Voller Energie. Sie machte ihn fertig. Um vier Uhr morgens nahm sie Reacher in ihr Hotel mit, weil sie’s darauf anlegte, ihn noch etwas fertiger zu machen. Das Hotel war ein kleiner Jugendstilbau in Strandnähe. Die Kreuzfahrtreederei behandelte ihre Leute offenbar gut. Jedenfalls war es ein weit romantischeres Nachtquartier als sein eigenes Motel. Und es lag viel näher.
Und im Gegensatz zu Reachers Unterkunft gab es hier Kabelfernsehen. Er wachte am Samstagmorgen um acht Uhr auf, als er die Tänzerin duschen hörte. Er stellte den Fernseher an und begann, ESPN zu suchen, weil er die Höhepunkte von Freitagabend in der American League sehen wollte. Aber er bekam sie nie zu sehen. Er zappte durch verschiedene Programme und blieb dann bei CNN hängen, weil er hörte, wie der Polizeichef einer Stadt in Indiana einen Namen nannte, den er von früher kannte: James Barr . Das Bild zeigte eine Pressekonferenz. Kleiner Raum, grelles Scheinwerferlicht. Oben eingeblendet war zu lesen: »Mit freundlicher Genehmigung von NBC.« Am unteren Bildrand verkündete ein Spruchband: »Massaker am Freitagabend.« Der Polizeichef wiederholte den Namen James Barr, dann stellte er einen Kriminalbeamten namens Emerson vor. Emerson sah müde aus und wiederholte den Namen zum zweiten Mal: James Barr . Und als habe er die Frage gehört, die Reacher sich stellte, ließ er eine Kurzbiografie folgen: »Einundvierzig Jahre, in Indiana geboren und aufgewachsen, 1985 bis 1991 Infantry Specialist in der U.S. Army, Golfkriegsveteran, ledig, gegenwärtig arbeitslos.«
Reacher hörte gespannt zu. Emerson fasste sich kurz. Er drückte sich präzise aus. Redete keinen Scheiß. Er beendete seine Ausführungen und verweigerte die Beantwortung der Frage eines Reporters, was James Barr bei seiner Vernehmung gesagt habe. Dann stellte er den Staatsanwalt vor. Dieser Kerl hieß Rodin, und er fasste sich nicht kurz. Er drückte sich schwammig aus. Redete jede Menge Scheiß. Er verbrachte einige Minuten damit, Emersons Ermittlungserfolg für sich zu beanspruchen. Wie das funktionierte, wusste Reacher. Schließlich war er dreizehn Jahre lang selbst eine Art Cop gewesen. Die Cops rissen sich den Arsch auf, und die Strafverfolger sonnten sich in unverdientem Ruhm. Rodin erwähnte den Namen James Barr noch einige Male und sagte dann, er werde voraussichtlich die Todesstrafe beantragen.
Wofür?
Reacher wartete.
Auf dem Bildschirm erschien eine lokale Fernsehjournalistin namens Ann Yanni. Sie fasste die Ereignisse des vorigen Abends zusammen. Feuerüberfall aus dem Hinterhalt. Sinnloses Morden. Ein Schnellfeuergewehr. Ein Parkhaus. Ein öffentlicher Platz. Pendler, die nach einer langen Arbeitswoche auf dem Nachhauseweg waren. Fünf Tote. Ein Verdächtiger in Haft, aber die Stadt weiter in Trauer.
Reacher vermutete, dass Yanni trauerte. Emersons rascher Fahndungserfolg hatte sie um den erhofften größeren Auftritt gebracht. Sie beendete ihren Bericht, und CNN machte mit Nachrichten aus der Politik weiter. Reacher schaltete den Fernseher aus. Die Tänzerin kam aus dem Bad. Sie war rosig und duftend. Und nackt. Sie hatte ihre Handtücher im Bad gelassen.
»Was machen wir heute?«, fragte sie mit einem strahlenden norwegischen Lächeln.
»Ich fahre nach Indiana«, sagte Reacher.
Er ging in der Hitze nach Norden zum Busbahnhof Miami. Dort blätterte er in einem speckigen
Weitere Kostenlose Bücher