Jack Reacher 09: Sniper
Unschuld ihres Bruders glaubte, würde selbst so früh kommen.
Rosemary Barr erschien auf die Minute pünktlich: am Montagmorgen um sieben Uhr. Auch Franklin war da. Er vertraute auf Helen Rodins Begabung und war bereit, seine Honorarrechnungen zu stunden, bis er wusste, wie sie sich machte. Helen Rodin selbst saß schon seit einer Stunde an ihrem Schreibtisch. Sie hatte David Chapman am Sonntagnachmittag den Anwaltswechsel mitgeteilt und von ihm den Mitschnitt seines ersten Gesprächs mit James Barr erhalten. Chapman war nur allzu gern bereit gewesen, ihr die Kassette und damit die Verantwortung für den Fall Barr zu übergeben. Sie hatte sich die Aufnahme schon am Sonntagabend ein Dutzend Mal angehört – und heute Morgen ein weiteres Dutzend Mal. Dies war alles, was irgendjemand von James Barr hatte. Vielleicht alles, was irgendjemand von ihm bekommen würde. Deshalb hatte sie sich die Aufnahme aufmerksam angehört und einige erste Schlussfolgerungen daraus gezogen.
»Hört gut zu«, sagte sie.
Die Kassette steckte zurückgespult und abspielbereit in einem altmodischen Recorder von der Größe eines Schuhkartons. Als sie die Starttaste drückte, hörten sie ein Rauschen, Atem- sowie Hintergrundgeräusche und dann David Chapmans Stimme: Ich kann Ihnen nicht helfen, wenn Sie sich nicht selbst helfen. Danach folgte eine lange Pause, in der wieder nur das Zischen zu hören war, bis James Barr sagte: Sie haben den Falschen. Sie haben den Falschen, wiederholte er. Dann achtete Helen auf den Bandzähler und spulte bis zu der Stelle vor, wo Chapman sagte: Leugnen kommt nicht infrage. Schließlich war wieder Barr dran: Lassen Sie Jack Reacher herkommen. Helen spulte vorwärts bis zu Chapmans Frage: Ist er ein Arzt? Danach war auf dem Tonband nur noch zu hören, wie Barr an die Tür des Vernehmungsraums hämmerte.
»Okay«, sagte Helen. »Ich denke, er glaubt wirklich, dass er’s nicht getan hat. Das behauptet er praktisch – und dann ist er frustriert und beendet das Gespräch, als Chapman ihn nicht ernst nimmt. Das ist klar, oder?«
»Er hat’s nicht getan«, beharrte Rosemary Barr.
»Ich habe gestern mit meinem Vater gesprochen«, sagte Helen Rodin. »Die Beweiskette ist lückenlos, Ms. Barr. Er hat’s getan, fürchte ich. Sie müssen akzeptieren, dass man als Schwester seinen Bruder vielleicht nicht so gut kennt, wie einem lieb wäre. Oder dass der Mensch, den man kannte, sich aus irgendeinem Grund verändert hat.«
Danach herrschte langes Schweigen.
»Sagt Ihr Vater Ihnen die Wahrheit, was die Beweise angeht?«, fragte Rosemary.
»Das muss er«, antwortete Helen. »Wir bekommen sie ohnehin alle zu sehen. Das gehört zu den Rechten der Verteidigung. Wir nehmen auch Zeugenaussagen zu Protokoll. Es wäre sinnlos, in diesem Stadium bluffen zu wollen.«
Keiner sprach.
»Aber wir können Ihrem Bruder trotzdem helfen«, sagte Helen in die Stille hinein. »Er glaubt, es nicht getan zu haben. Davon bin ich überzeugt, seit ich mir diese Aufnahme angehört habe. Also leidet er jetzt unter Wahnvorstellungen. Zumindest war das am Samstag der Fall. Also könnte er auch am Freitag unter Wahnvorstellungen gelitten haben.«
»Wie nützt ihm das?«, fragte Rosemary Barr. »Er wird trotzdem schuldig gesprochen.«
»Ja, aber die Folgen wären anders. Wenn er sich wieder erholt. Eine Haftstrafe und eine Behandlung in einer Klinik wären viel besser als eine Haftstrafe in einem Hochsicherheitsgefängnis und keine Behandlung.«
»Sie wollen ihn für unzurechnungsfähig erklären lassen?«
Helen nickte. »Eine Verteidigung mit medizinischen Gründen ist unsere beste Chance. Und wenn wir’s gleich darauf anlegen, könnte das die Art und Weise beeinflussen, wie er vor dem Prozess behandelt wird.«
»Er könnte sterben. Das haben die Ärzte gesagt. Ich will nicht, dass er als Verbrecher stirbt. Ich will seinen Namen reinwaschen.«
»Er hat noch nicht vor Gericht gestanden. Er ist nicht verurteilt. In den Augen des Gesetzes ist er nach wie vor unschuldig.«
»Das ist nicht dasselbe.«
»Nein«, meinte Helen. »Das ist’s wohl nicht.«
Danach herrschte wieder langes Schweigen.
»Ich schlage vor, dass wir uns um halb elf wieder hier treffen«, sagte Helen. »Wir müssen eine Strategie ausarbeiten. Streben wir eine Verlegung in ein anderes Krankenhaus an, sollten wir uns möglichst frühzeitig darum bemühen.«
»Wir müssen diesen Jack Reacher finden«, sagte Rosemary Barr.
Helen nickte. »Ich habe seinen Namen
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