Jack Reacher 09: Sniper
schwieg. Aber er sah in Helens Blick, dass sie eine Antwort zu haben glaubte.
»Sie wissen etwas«, sagte sie. »Vielleicht wissen Sie nicht, dass Sie’s wissen. Aber hier muss es irgendwas geben. Etwas, von dem er sich Entlastung verspricht.«
»Spielt das denn eine Rolle? Er liegt im Koma. Vielleicht wacht er nie wieder auf.«
»Doch, das ist sehr wichtig. Es könnte ihm bessere Behandlung sichern.«
»Ich weiß aber nichts.«
»Bestimmt nicht? Ist er damals psychiatrisch untersucht worden?«
»Dazu ist’s nie gekommen.«
»Hat er auf Unzurechnungsfähigkeit plädiert?«
»Nein, er hat hundert Prozent für sich reklamiert. Vier Schuss, vier Treffer.«
»Haben Sie ihn für verrückt gehalten?«
»Das ist ein großes Wort. War es verrückt, aus Spaß vier Menschen zu erschießen? Natürlich war’s das. Aber war er juristisch gesehen unzurechnungsfähig? Sicher nicht.«
»Sie müssen etwas wissen, Reacher«, sagte Helen. »Es muss irgendwie verschüttet sein. Sie müssen’s nur wieder frei legen.«
Er schwieg einen Augenblick.
»Haben Sie das Beweismaterial jemals selbst gesehen?«, fragte er.
»Eine Zusammenfassung davon.«
»Wie schlimm ist es?«
»Einfach schrecklich. Dass er der Täter war, steht völlig außer Zweifel. Hier geht’s bestenfalls um mildernde Umstände. Und um seinen Geisteszustand. Ich darf nicht zulassen, dass ein Geistesgestörter hingerichtet wird.«
»Dann sollten Sie warten, bis er wieder aufgewacht ist, damit Sie ihn untersuchen lassen können.«
»Die Mühe kann ich mir sparen. Selbst wenn er völlig gaga aufwacht, wird die Staatsanwaltschaft sagen, das sei eine Folge seiner Schädelverletzungen bei dem Überfall im Gefängnis. Sie wird behaupten, er sei zum Zeitpunkt der Tat völlig normal gewesen.«
»Ist Ihr Dad ein fairer Mann?«
»Er lebt, um zu siegen.«
»Wie der Vater, so die Tochter?«
Sie zögerte.
»Ein bisschen«, sagte sie dann.
Reacher aß seinen Salat auf. Versuchte die letzte Walnuss mit der Gabel aufzuspießen, gab dann auf und benützte stattdessen seine Finger.
»Woran denken Sie?«, fragte Helen.
»Nur an eine Kleinigkeit«, antwortete er. »Vor vierzehn Jahren war’s ein sehr schwieriger Fall mit kaum ausreichenden Beweisen. Aber Barr hat trotzdem gestanden. Diesmal scheinen die Beweise überwältigend zu sein. Aber er streitet die Tat ab.«
»Was bedeutet das?«
»Weiß ich nicht.«
»Denken Sie also darüber nach, was Sie wissen«, sagte Helen. »Bitte. Sie müssen irgendwas wissen. Sie sollten sich fragen, weshalb er Ihren Namen genannt hat. Dafür muss es einen Grund geben.«
Reacher äußerte sich nicht dazu. Der junge Mann, der sie bedient hatte, trug das Geschirr ab. Als Reacher auf seine Tasse deutete, kam er noch einmal zurück und goss ihm Kaffee nach.
Reacher umfasste die Tasse mit beiden Händen und genoss den aromatischen Duft.
»Darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«, sagte Helen Rodin.
»Kommt darauf an, wie persönlich«, erwiderte Reacher.
»Wieso waren Sie unauffindbar? Normalerweise können Kerle wie Franklin jeden aufspüren.«
»Vielleicht ist er nicht so gut, wie Sie glauben.«
»Er ist wahrscheinlich besser, als ich glaube.«
»Nicht jeder ist auffindbar.«
»Richtig. Aber Sie sehen nicht so aus, als gehörten Sie in diese Kategorie.«
»Ich war Bestandteil des Apparats«, erklärte Reacher. »Mein Leben lang. Dann hat er gehustet und mich ausgespuckt. Also habe ich mir gedacht: Okay, wenn du draußen bist, bleibst du draußen. Ganz und gar draußen. Ich war ein bisschen wütend, und das war vermutlich eine unreife Reaktion. Aber ich habe mich daran gewöhnt.«
»Für Sie ist das ein Spiel?«
»Wohl eher eine Sucht«, meinte Reacher. »Ich bin süchtig danach, draußen zu sein.«
Der junge Mann brachte die Rechnung. Helen Rodin zahlte. Dann verstaute sie den Kassettenrecorder wieder in ihrem Aktenkoffer. Sie verließen das Lokal und gingen nach Norden, an den Bauarbeiten im unteren Teil der First Street vorbei. Helen wollte in ihr Büro zurück, und er war auf der Suche nach einem Hotel.
Ein Mann namens Grigor Linsky beobachtete, wie sie davongingen. Er hockte zusammengesunken hinter dem Steuer seines am Randstein geparkten Wagens. Er hatte gewusst, wo er warten musste. Er wusste, wo sie aß, wenn sie mit jemandem zum Essen ging.
4
Reacher nahm sich ein Zimmer im Hotel Metropole Palace, das sich in der Innenstadt zwei Blocks östlich der First Street und ungefähr auf Höhe des
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