Jack Reacher 09: Sniper
her – aus dem Pentagon? Das war ein Fehler gewesen. Irgendwann würde Alex Rodin zwei und zwei zusammenzählen und sich sagen: Hier gibt’s noch mehr, und der Schlüssel dazu liegt im Pentagon . Das Verteidigungsministerium würde natürlich mauern. Aber das würde Rodin nicht hinnehmen und sich an die Medien wenden. Vermutlich an Ann Yanni. Sie würde begeistert die Chance nutzen, wieder NBC-weit auf Sendung zu sein. Und letztlich würde Rodins Unsicherheit über den Ausgang des Falls Barr bewirken, dass er’s einfach wissen musste . Er würde in dieser Sache nicht nachgeben.
Und Reacher wollte nicht, dass die Story publik wurde. Mit chemischen Vergiftungen und der Strahlenbelastung durch angereichertes Uran hatten die Golfskriegsveteranen es schon schwer genug. Als einzigen Pluspunkt konnten sie den makellosen Ruf dieses Konflikts als gerechten Krieg verbuchen. Es wäre unfair gewesen, sie herabzuwürdigen, indem man sie mit Leuten wie James Barr und seinen Opfern in Verbindung brachte. Dann würde es heißen: He, das haben doch alle gemacht . Und nach Reachers Erfahrung hatten das keineswegs alle gemacht. Die Golfkriegstruppe war in Ordnung gewesen. Deshalb wollte er nicht, dass die Story an die Öffentlichkeit gelangte, wenn es sich irgendwie vermeiden ließ – und das wollte er selbst entscheiden.
Deshalb keine Andeutungen Alex Rodin gegenüber. Keine Telefonnummer für Notfälle.
Stattdessen … was eigentlich?
Reacher beschloss, noch vierundzwanzig Stunden zu bleiben. Vielleicht gab es bis dahin eine klare Prognose, was Barrs Zustand betraf. Vielleicht konnte er irgendwie bei Emerson vorbeischauen und sich einen besseren Überblick über das Beweismaterial verschaffen. Vielleicht hatte er dann keine Bedenken mehr, den Fall Alex Rodins Dienststelle – gewissermaßen mit eingeschaltetem forensischem Autopiloten – zu überlassen. Falls es im weiteren Verlauf Probleme gab, würde er irgendwann in ferner Zukunft an einem Strand oder in einer Bar in der Zeitung davon lesen und die ganze Reise noch einmal machen.
Also lagen vierundzwanzig Stunden in einer nicht allzu großen Stadt im Herzen Amerikas vor ihm.
Er beschloss herauszufinden, ob es hier einen Fluss gab.
Es gab einen Fluss. Einen breiten Strom, der südlich der Stadtmitte langsam in West-Ost-Richtung verlief. Irgendein Nebenfluss des gewaltigen Ohio Rivers, vermutete er. Sein Nordufer war auf einer Länge von dreihundert Metern mit massiven Steinblöcken befestigt und begradigt. Jeder dieser Blöcke musste fünfzig Tonnen wiegen. Sie waren exakt behauen und kunstvoll aufgeschichtet. So war ein Kai, eine Pier entstanden, in die hohe, dicke Poller zum Festmachen von Leinen eingelassen waren. Steinplatten machten die Pier über zehn Meter breit. Auf ihrer gesamten Länge standen große zum Fluss und zur Straße hin offene Holzschuppen. Die Straße war gepflastert. Vor hundert Jahren hätten hier gewaltige Schleppkähne gelegen, um von ganzen Scharen von Männern entladen zu werden. Pferdefuhrwerke wären übers Pflaster gerattert. Aber jetzt war nichts zu hören. Nur tiefe Stille und zwischendurch das leise Plätschern des langsam vorbeiströmenden Wassers. Die Poller waren mit einer dicken Rostschicht überzogen, und in den Spalten zwischen den Steinplatten wucherte Unkraut.
An einigen Schuppen standen noch verblasste Firmennamen: McGinty – Textilien. Allentown – Saatgut. Parker – Lebensmittel. Reacher schlenderte die dreihundert Meter weiter, um die Schuppen zu begutachten. Sie standen alle noch, wirkten stabil und haltbar. Reif zur Renovierung, vermutete er. Eine Stadt, die auf einem öffentlichen Platz einen Zierteich mit Fontäne angelegt hatte, würde auch die alte Pier am Fluss aufmöbeln. Das war unvermeidlich. Überall in der Stadt wurde gebuddelt. Die Baustellen würden nach Süden vorrücken. Die Stadt würde jemandem Steuervergünstigungen gewähren, damit er ein Café aufmachte. Vielleicht auch eine Bar. Vielleicht von Donnerstag bis Samstag mit Live-Musik. Vielleicht mit einem kleinen Museum, das die Geschichte des Binnenhandels auf dem Fluss illustrierte.
Er machte kehrt, um den gleichen Weg zurückzugehen – und stand Helen Rodin gegenüber.
»Sie sind doch nicht allzu schwer zu finden«, sagte sie.
»Anscheinend«, sagte er.
»Touristen gehen immer zum Kai hinunter.«
Sie trug den großen Aktenkoffer einer Anwältin.
»Darf ich Sie zum Mittagessen einladen?«, fragte sie.
Sie ging mit ihm nach Norden bis
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