Jack Reacher 09: Sniper
alt. Ohne sie wäre er mit zwanzig umgekommen. Oder später mit dreißig, als er dann verrückt geworden war und seinen wahren Namen endgültig vergessen hatte.
»Die Anwältin ist ins Büro zurückgegangen«, sagte Linsky. »Reacher ist von der First Street nach Osten abgebogen. Ich bin außer Sicht geblieben, statt ihn zu verfolgen. Aber er war nicht in Richtung Busbahnhof unterwegs. Folglich können wir annehmen, dass er in der Stadt bleibt. Ich tippe darauf, dass er im Metropole Palace übernachtet. In dieser Richtung gibt’s sonst nichts.«
Der Zec äußerte sich nicht dazu.
»Sollen wir irgendwas unternehmen?«, fragte Linsky.
»Wie lange bleibt er?«
»Kommt darauf an. Er ist offenbar hier, um zu helfen.«
Der Zec sagte nichts.
»Sollen wir irgendwas unternehmen?«, wiederholte Linsky.
Nun entstand eine Pause. Mit Ätherrauschen und dem Atmen eines alten Mannes.
»Vielleicht sollten wir ihn ablenken«, meinte der Zec. »Oder ihn entmutigen. Meines Wissens ist er Soldat gewesen. Folglich dürfte er sich entsprechend verhalten. Ist er im Metropole, bleibt er heute Abend nicht im Hotel. Für einen Soldaten ist’s dort zu langweilig. Er geht bestimmt aus. Vermutlich allein. Also sollte es einen Zwischenfall geben. Lassen Sie sich was einfallen. Irgendeine große Szene. Aber mit Außenstehenden, nicht mit unseren eigenen Leuten. Und sorgen Sie dafür, dass sie natürlich wirkt.«
»Schäden?«
»Mindestens ein paar Knochenbrüche. Vielleicht erleidet er eine Kopfverletzung. Vielleicht landet er bei seinem Kumpel James Barr auf der Intensivstation.«
»Was ist mit der Anwältin?«
»Die lässt du in Ruhe. Zumindest vorläufig. Die kommt irgendwann später dran. Wenn’s sein muss.«
Helen Rodin verbrachte eine Stunde an ihrem Schreibtisch. In dieser Zeit nahm sie drei Anrufe entgegen. Der erste kam von Franklin. Er stieg aus.
»Tut mir leid, aber Sie werden verlieren«, erklärte er. »Und ich muss mich ums Geschäft kümmern. Ich kann nicht noch mehr unbezahlte Arbeit in diese Sache reinstecken.«
»Niemand mag aussichtslose Fälle«, sagte Helen diplomatisch. Sie würde ihn in Zukunft wieder brauchen. Also durfte sie ihn nicht vergrätzen.
»Vor allem keine, für die’s kein Honorar gibt«, meinte Franklin.
»Kommen Sie wieder an Bord, wenn ich irgendwo ein Budget auftreibe?«
»Klar«, erwiderte Franklin. »Sie brauchen nur anzurufen.«
Dann legten sie auf, hatten die Form gewahrt und wussten, dass ihre Beziehung intakt geblieben war. Der nächste Anruf kam zehn Minuten später. Der Anrufer war ihr Vater, dessen Stimme beunruhigt und sorgenvoll klang.
»Du hättest diesen Fall nicht übernehmen sollen, weißt du«, sagte er.
»Ich hatte nicht viele zur Auswahl«, sagte Helen.
»Verlieren könnte siegen bedeuten, wenn du weißt, was ich meine.«
»Siegen könnte auch siegen bedeuten.«
»Nein, siegen bedeutet verlieren. Darüber musst du dir im Klaren sein.«
»Hast du’s jemals darauf angelegt, einen Prozess zu verlieren?«
Ihr Vater sagte nichts. Dann begann er, nach Informationen zu fischen.
»Hat Jack Reacher dich gefunden?«, fragte er, was bedeutete: Muss ich mir Sorgen machen?
»Das hat er«, antwortete sie, um einen leichten Tonfall bemüht.
»War er interessant?« Was bedeutete: Muss ich mir große Sorgen machen?
»Ich verdanke ihm jedenfalls Stoff zum Nachdenken.«
»Nun, wollen wir darüber reden?« Was bedeutete: Bitte erzähl’s mir.
»Das tun wir bestimmt bald. Wenn die Zeit reif ist.«
Sie machten noch eine Minute lang Konversation und verabredeten sich zum Abendessen. Er versuchte es nochmal: Bitte erzähl’s mir. Aber das tat sie nicht. Dann legten sie auf. Helen lächelte befriedigt. Sie hatte nicht gelogen. Hatte nicht einmal geblufft. Aber sie hatte das Gefühl, aktiv beteiligt zu sein. Die Juristerei war ein Spiel, das wie jedes Spiel eine psychologische Komponente beinhaltete.
Der dritte Anruf kam von Rosemary Barr im Krankenhaus.
»James wacht auf«, sagte sie. »Er hat seinen Beatmungsschlauch ausgehustet. Er wacht aus dem Koma auf.«
»Kann er reden?«
»Vielleicht morgen, sagen die Ärzte.«
»Wird er sich an irgendetwas erinnern?«
»Das halten die Ärzte für möglich.«
Eine Stunde später verließ Reacher das Metropole. Er blieb östlich der First Street und hielt in nördlicher Richtung auf die Discountläden zu, die er in der Nähe des Gerichtsgebäudes gesehen hatte. Er brauchte Klamotten. Irgendetwas Einheimisches. Vielleicht
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