Jack Reacher 09: Sniper
ich schon?«
»Sie müssen’s tun. Ich denke, das haben Sie bereits vor. Deshalb waren Sie zuerst bei meinem Vater. Klar, er ist zuversichtlich. Das konnten Sie selbst feststellen. Aber Sie wollen das Material trotzdem mit eigenen Augen sehen. Sie waren ein gründlicher Ermittler. Das haben Sie selbst gesagt. Sie sind ein Perfektionist. Sie wollen die Stadt mit dem Bewusstsein verlassen können, dass der Fall Ihren eigenen Qualitätsstandards entsprechend aufgeklärt ist.«
Reacher sagte nichts.
»Auf diese Weise können Sie alles genau unter die Lupe nehmen«, fuhr sie fort. »Die Gegenseite ist gesetzlich verpflichtet, uns alles zu zeigen. Die Verteidigung muss die Ermittlungsergebnisse vollständig nachvollziehen können.«
Reacher schwieg.
»Ihnen bleibt nichts anderes übrig«, sagte Helen. »Sonst bekommen Sie überhaupt nichts zu sehen. Einem Unbekannten, der einfach so hereinspaziert, zeigt die Polizei gar nichts.«
Ein gründlicher Blick aufs Beweismaterial. Danach befriedigt die Stadt verlassen. Die einzige Möglichkeit.
»Okay«, sagte Reacher.
Sie deutete in die Richtung, in die er gehen musste. »Vier Blocks nach Westen und einen nach Süden. Die Polizei ist unübersehbar. Ich gehe in mein Büro hinauf und rufe Emerson an.«
»Wozu die Eile?«
»James Barr ist dabei aufzuwachen. Ich will diesen Kram aus dem Weg haben. Morgen muss ich den größten Teil des Tages damit verbringen, einen Psychiater zu finden, der bereit ist, kostenlos zu arbeiten. Wir können nach wie vor nichts Besseres tun, als auf Unzurechnungsfähigkeit plädieren.«
Reacher ging vier Blocks weit nach Westen und einen nach Süden. Dabei kam er unter dem auf Stelzen verlaufenden Highway hindurch und erreichte eine Straßenecke. Das Dienstgebäude der Polizei nahm den ganzen Block ein. Auf dem dazugehörigen L-förmigen Parkplatz standen ihre Fahrzeuge: Streifenwagen auf schräg angeordneten Stellplätzen, neutrale Kripofahrzeuge, der Laborwagen der Spurensicherung und das Einsatzfahrzeug des SWAT-Teams. Das Gebäude war ein gelber Klinkerbau mit Flachdach, aus dem mehrere dicke Abluftschächte ragten. Sämtliche Erdgeschossfenster waren vergittert. Die Krone der Parkplatzmauer war mit Bandstacheldraht gesichert.
Er ging hinein, ließ sich den Weg erklären und traf Emerson hinter seinem Schreibtisch auf ihn wartend an. Reacher erkannte ihn von seinem Fernsehauftritt am Samstagmorgen. Derselbe Kerl, blass, ruhig, kompetent, nicht groß, nicht klein. In Person wirkte er wie der geborene Cop. Vielleicht war er schon vom Augenblick der Empfängnis an einer gewesen. Das steckte ihm in den Poren. In seiner DNA. Er trug eine graue Flanellhose und ein kurzärmeliges weißes Hemd, mit geöffnetem Kragen und ohne Krawatte. Über seiner Stuhllehne hing ein Tweedsakko. Gesicht und Körper wirkten irgendwie unscharf definiert, als wären sie unter ständigem Druck verformt entstanden.
»Willkommen in Indiana«, sagte er.
Reacher schwieg.
»Das ist mein Ernst«, fuhr Emerson fort. »Wirklich. Wir sind begeistert, wenn alte Freunde des Beschuldigten aufkreuzen, um unsere Arbeit zunichtezumachen.«
»Ich bin im Auftrag seiner Anwältin hier«, entgegnete Reacher. »Nicht als Freund.«
Emerson nickte.
»Die allgemeinen Informationen gebe ich Ihnen selbst«, sagte er. »Danach erläutert der Chef unserer Spurensicherung Ihnen die Einzelheiten. Sie können absolut alles sehen, was Sie sehen möchten – und absolut alles fragen, was Sie für wichtig halten.«
Reacher lächelte. Er war dreizehn lange Jahre selbst eine Art Cop gewesen – in einem schwierigen Revier – und kannte den Fachjargon mit allen Untertönen. Weil er sämtliche Nuancen verstand, enthielt Emersons Tonfall eine verdeckte Botschaft: Trotz seiner anfänglichen Feindseligkeit war dieser Kerl im Stillen froh darüber, mit einem kritischen Geist zusammenzutreffen. Weil er ganz sicher wusste, dass er unwiderlegbare Beweise hatte.
»Sie haben James Barr ziemlich gut gekannt, stimmt’s?«, fragte Emerson.
»Und Sie?«, lautete Reachers Gegenfrage.
Emerson schüttelte den Kopf. »Ich bin ihm nie begegnet. Es hat keine Warnsignale gegeben.«
»War sein Gewehr legal?«
Emerson nickte. »Es war registriert und im Originalzustand. Genau wie seine übrigen Waffen.«
»War er Jäger?«
Emerson schüttelte erneut den Kopf. »Er war kein NRA-Mitglied und hat keinem Schützenverein angehört. Wir haben ihn niemals irgendwo auf den Hügeln angetroffen. Er ist uns nie
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