Jack Reacher 09: Sniper
meinem Blick?«, fragte er.
»Nein«, erwiderte sie. »Keine.« »Fangen Sie also an, Psychiater anzurufen. Das sollten Sie wirklich dringend tun.«
»Er hat ein Recht auf einen Anwalt, Reacher.«
»Er ist ein Verbrecher.«
»Wir können ihn nicht einfach lynchen.«
Reacher nickte. »Der Seelendoktor sollte über die Parkuhr nachdenken. Ich meine, wer zahlt schon für zehn Minuten Parken, auch wenn er keine Leute erschießen will? Das kommt mir verrückt vor. Es ist so gesetzestreu, nicht? Irgendwie stellt es alles in einen gesetzestreuen Kontext. Vielleicht war er diesmal wirklich verrückt. Sie wissen schon, vielleicht hat er nicht recht gewusst, was er tat.«
Helen Rodin machte sich einen Vermerk. »Gut, ich denke daran.«
»Gehen wir zusammen essen?«
»Wir stehen auf verschiedenen Seiten.«
»Wir haben gemeinsam zu Mittag gegessen.«
»Nur weil ich etwas von Ihnen wollte.«
»Wir können uns trotzdem zivilisiert benehmen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin mit meinem Vater zum Abendessen verabredet.«
»Er steht auf der Gegenseite.«
»Er ist mein Vater.«
Reacher sagte nichts.
»Waren die Cops in Ordnung?«, fragte sie.
Reacher nickte. »Sie waren durchaus höflich.«
»Sie können sich nicht allzu sehr gefreut haben, Sie zu sehen. Sie verstehen nicht, weshalb Sie wirklich hier sind.«
»Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen. Sie haben einen klasse Fall.«
»Das Stück ist erst aus, wenn die Dicke singt.«
»Die singt seit Freitagnachmittag. Ziemlich laut.«
»Vielleicht können wir uns nach dem Abendessen auf einen Drink treffen«, sagte sie. »Wenn ich rechtzeitig wegkomme. Sechs Blocks nördlich von hier gibt’s eine Sport-Bar. An Montagabenden ist sie so ziemlich das einzige geöffnete Lokal der Stadt. Ich komme vorbei und sehe nach, ob Sie noch da sind. Aber versprechen kann ich nichts.«
»Ich auch nicht«, sagte Reacher. »Vielleicht bin ich im Krankenhaus und ziehe die Stecker von James Barrs Geräten raus.«
Er fuhr mit dem Lift hinunter und begegnete in der Eingangshalle Rosemary Barr, die dort auf ihn wartete. Er vermutete, sie komme eben aus dem Krankenhaus und habe oben angerufen und von Helen Rodin erfahren, er sei auf dem Weg nach unten. Also hatte sie hier auf ihn gewartet. Sie ging nervös auf und ab und kreuzte dabei immer wieder die Route zwischen den Aufzügen und der Drehtür zur Straße.
»Können wir miteinander reden?«, fragte sie.
»Draußen«, antwortete er.
Reacher führte sie ins Freie und über die Plaza zum Südrand des Zierteichs, der sich weiterhin langsam füllte. Die Fontäne plätscherte und planschte. Er setzte sich dorthin, wo er schon einmal gesessen hatte – mit den Erinnerungsgaben zu seinen Füßen. Rosemary Barr blieb sehr dicht vor ihm stehen, blickte ihm unverwandt in die Augen und ignorierte die Blumen, Kerzen und Fotos.
»Sie müssen weiter für alles offen bleiben«, sagte sie.
»Muss ich das?«, fragte er.
»James wollte, dass Sie herkommen, folglich kann er nicht schuldig sein.«
»Das ist eine kühne Vermutung.«
»Das ist nur logisch.«
»Ich habe eben die Beweise gesehen«, sagte er. »Mehr als genug, um jeden zu überzeugen.«
»Ich will nicht bestreiten, was vor vierzehn Jahren passiert ist …«
»Das können Sie auch nicht.«
»Aber diesmal ist er unschuldig.«
Reacher schwieg.
»Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist«, sagte Rosemary. »Sie haben das Gefühl, er habe Sie hintergangen.«
»Das hat er.«
»Aber was ist, wenn er’s nicht war? Wenn er Ihre Bedingungen genau eingehalten hat, wenn alles nur ein Irrtum ist? Wie wäre Ihnen dann zumute? Was würden Sie dann für ihn tun? Finden Sie nicht auch, dass Sie ebenso für ihn eintreten müssten, wenn Sie bereit sind, gegen ihn aufzutreten?«
»Das ist zu hypothetisch für mich.«
»Das ist nicht hypothetisch. Ich frage nur: Sind Sie bereit, ebenso viel Energie dafür aufzuwenden, ihm zu helfen, wenn sich herausstellt, dass Sie sich getäuscht haben, dass er unschuldig ist?«
»Zeigt sich, dass ich mich geirrt habe, braucht er meine Hilfe nicht.«
»Tun Sie’s?«
»Ja«, sagte Reacher, weil das ein Versprechen war, das er leicht geben konnte.
»Deshalb müssen Sie weiter für alles offen bleiben.«
»Weshalb sind Sie ausgezogen?«
Sie machte eine Pause. »Er war immer zornig. Es hat keinen Spaß mehr gemacht, mit ihm unter einem Dach zu leben.«
»Worauf zornig?«
»Auf alles.«
»Dann sollten vielleicht Sie weiter für alles offen
Weitere Kostenlose Bücher