Jack Reacher 09: Sniper
nicht. Sie waren wie aus ›Kurs 101, Tatorte‹, Helen. Wie an Bellantonios erstem Tag im College. Die ganze Sache war zu gut, um wahr zu sein, deshalb war sie nicht wahr. Alles war daran falsch. Warum hätte er zum Beispiel einen Trenchcoat tragen sollen? Das Wetter war warm und trocken, und er hat im Auto gesessen, ist nie ins Freie gekommen. Den hat er getragen, damit er Fasern davon an einem Betonpfeiler zurücklassen konnte. Weshalb hat er diese dämlichen Stiefel getragen? Man braucht sie sich nur anzusehen, um zu wissen , dass daran jedes bisschen Staub und Scheiß hängen bleibt. Wieso hat er aus dem Dunkel geschossen? Damit die Leute das Mündungsfeuer sehen und seinen Standort genau bestimmen konnten; damit sie später raufgehen und alle übrigen Spuren entdecken konnten. Wieso hat er sein Gewehr auf der Betonmauer verkratzt? Das Ding hat ihn zweieinhalbtausend Dollar gekostet! Und wieso hat er den Markierungskegel nicht mitgenommen? Es wäre einfacher gewesen, ihn hinten in seinen Van zu werfen, als ihn dort zurückzulassen.«
»Das ist verrückt«, sagte Helen wieder.
»Zwei entscheidende Punkte«, meinte Reacher. »Wieso hat er fürs Parken gezahlt? Das hat mich von Anfang an irritiert. Ich meine, wer tut das schon? Aber er hat’s getan, und zwar nur, um einen kleinen zusätzlichen Hinweis zu hinterlassen. Das ist die einzig logische Erklärung. Er wollte einen Quarter mit seinen Fingerabdrücken in der Parkuhr zurücklassen. Um alles noch mit einer hübschen Schmuckschleife zu versehen. Um die Verbindung zu der Patronenhülse herzustellen, die er bestimmt auch absichtlich zurückgelassen hat.«
»Die ist in eine Spalte gefallen.«
»Er hätte sie rausholen können. In Bellantonios Bericht steht, dass dort massenhaft Kabelabschnitte herumgelegen haben. Das hätte nur anderthalb Sekunden gedauert.«
»Und der zweite entscheidende Punkt?«, fragte Helen Rodin.
»Der ist ganz leicht, sobald man anfängt, durchs richtige Ende des Fernrohrs zu sehen. Er wollte den Zierteich aus Süden, nicht aus Westen vor sich haben. Das war sehr wichtig. Das Wasserbecken sollte nicht seitlich, sondern der Länge nach vor ihm liegen.«
»Weshalb?«
»Weil er nicht danebengeschossen hat, Helen. Er hat absichtlich in das Becken gezielt. Die Kugel sollte wie bei einem Schießversuch ins Wasser gehen – in flachem Winkel und mit voller Beckenlänge vor sich -, damit sie später unbeschädigt geborgen werden konnte. Nur damit einwandfrei feststand, aus welcher Waffe die Schüsse gefallen waren. Deshalb durfte er nicht von der Seite her schießen. Da wäre die Wasserstrecke für die Kugel zu kurz gewesen. Sie hätte die gegenüberliegende Wand getroffen und wäre beschädigt worden.«
»Aber warum, zum Teufel, soll er das alles getan haben?«
Reacher gab keine Antwort.
»Späte Reue? Wegen der Morde vor vierzehn Jahren? Um geschnappt und bestraft zu werden?«
Reacher schüttelte den Kopf. »Dann hätte er gleich nach seiner Verhaftung ein Geständnis abgelegt. Ein reuiger Verbrecher hätte es kaum erwarten können, gestehen zu dürfen.«
»Weshalb hat er’s also getan?«
»Weil er dazu gezwungen wurde, Helen.«
Sie starrte ihn an.
»Jemand hat ihn dazu gezwungen«, sagte Reacher. »Er ist dazu gezwungen worden, es zu tun, und er ist dazu gezwungen worden, die Schuld dafür auf sich zu nehmen. Ihm ist befohlen worden, nach der Tat heimzufahren und seine Verhaftung abzuwarten. Deshalb hat er die Schlaftabletten genommen. Bestimmt hat es ihn halb verrückt gemacht herumzusitzen und darauf zu warten, dass die Polizei anrückte.«
Helen Rodin schwieg.
»Er hat unter Zwang gestanden«, sagte Reacher. »Todsicher! Das ist die einzig logische Erklärung. Er war kein durchgeknallter Einzeltäter. Deshalb hat er gesagt: Sie haben den Falschen . Das war eine versteckte Botschaft. Er hat gehofft, dass jemand sie aufgreifen würde. Damit wollte er sagen, die Polizei solle nach dem anderen Kerl fahnden. Nach dem Kerl, der ihn dazu gezwungen hatte. Nach dem Kerl, der nach seiner Überzeugung der wahre Verantwortliche ist.«
Helen Rodin schwieg weiter.
»Nach dem Drahtzieher«, sagte Reacher.
Reacher blickte wieder auf die Plaza hinunter. Der Zierteich war jetzt zu fast zwei Dritteln gefüllt. Die Fontäne plätscherte heiter. Die Sonne schien. Dort unten lungerte niemand herum.
Helen Rodin stand von ihrem Schreibtisch auf. Blieb einfach dahinter stehen.
»Ich müsste vor Freude Rad schlagen«, sagte sie.
»Er hat
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