Jack Reacher 09: Sniper
Wagen besaß getönte Scheiben. Die wenigen vorbeikommenden Fahrer hätten überhaupt nichts gemerkt. Er hätte seine sechs Schüsse auf viel leichter zu treffende Ziele abgeben sollen, und die Patronenhülsen wären im Wageninnern ausgeworfen worden. Anschließend hätte er wieder nach vorn klettern und seelenruhig wegfahren sollen. Er hätte sich in weit besserer Schussposition befunden und nichts Belastendes zurückgelassen. Nicht die geringste Spur, weil außer seinen Reifen hier nichts den Asphalt berührt hätte.«
»Hier sind wir weiter weg. Er hätte aus größerer Entfernung schießen müssen.«
»Ungefähr siebzig Meter. Barr hätte selbst aus fünffacher Entfernung sicher getroffen. Das tut jeder beim Militär ausgebildete Scharfschütze. Für ein M1A Super Match sind siebzig Meter praktisch Kernschussweite.«
»Jemand hätte sich sein Kennzeichen merken können. Etwas Verkehr herrscht immer . Jemand hätte sich später daran erinnert, ihn hier oben gesehen zu haben.«
»Seine Kennzeichen waren unter einer Schlammschicht unleserlich. Vermutlich absichtlich. Und der Fluchtweg von hier aus wäre ideal gewesen. In fünf Minuten hätte er fünf Meilen weit entfernt sein können. Viel besser, als sich dort unten durchs Verkehrsgewühl zwängen zu müssen.«
Helen Rodin schwieg.
»Und er hat mit sonnigem Wetter gerechnet«, fuhr Reacher fort. »Sie haben mir erzählt, dass es meist sonnig ist. Um fünf Uhr nachmittags hätte die Sonne hinter ihm gestanden. Er hätte aus der Sonne heraus geschossen. Für jeden Scharfschützen ist das ein grundsätzlich anzustrebender Vorteil.«
»Manchmal regnet es aber.«
»Auch das wäre in Ordnung gewesen. Der Regen hätte seine Reifenspuren aus dem Split am Fahrbahnrand gewaschen. Jedenfalls hätte Barr hier oben sein sollen. Jeder vernünftige Grund spricht dafür, dass er mit seinem Van hier oben hätte stehen müssen.«
»Aber er hat nicht hier gestanden.«
»Offenbar.«
»Warum nicht?«
»Wir sollten zusehen, dass wir in Ihr Büro zurückkommen. Dort gehören Sie jetzt hin. Wir haben viel zu tun – wir müssen eine Strategie ausarbeiten.«
Helen Rodin setzte sich an ihren Schreibtisch. Reacher trat ans Fenster und sah auf die Plaza hinunter. Hielt Ausschau nach dem behinderten Mann in dem uneleganten Zweireiher. Entdeckte ihn jedoch nirgends.
»Welche Strategie?«, fragte Helen. »Barr hat sich dafür entschieden, von wo aus er schießen wollte, das ist alles, und Sie sagen, dass er einen besseren Standort hätte wählen sollen – nach einer vierzehn Jahre alten militärischen Theorie, die er vermutlich schon am Tag nach seiner Entlassung vergessen hat.«
»Sie vergessen nichts«, sagte Reacher.
»Das überzeugt mich nicht.«
»Deshalb hat er Chapman sitzen lassen. Auch Chapman wollte sich nicht überzeugen lassen. Deshalb hat er mich verlangt.«
»Und sind Sie überzeugt?«
»Ich sehe eine Situation, in der ein militärisch ausgebildeter Scharfschütze auf eine ausgezeichnete Stellung zugunsten einer weit schlechteren verzichtet hat.«
»In Kuwait City hat er aus einem Parkhaus geschossen. Das haben Sie mir selbst erzählt.«
»Weil das eine gute Stellung war. Dort hatte er den Eingang des Apartmentgebäudes direkt vor sich. Die vier Kerle sind genau auf ihn zugekommen. Sie sind wie Dominosteine umgefallen.«
»Seit damals sind vierzehn Jahre vergangen. Er ist nicht mehr so gut wie früher. Das ist alles.«
»Sie vergessen nichts«, wiederholte Reacher.
»Also gut, wie macht ihn das weniger schuldig?«
»Entscheidet jemand sich gegen ein großartiges A und für ein miserables B, muss es einen Grund dafür geben. Und aus Gründen ergeben sich Zusammenhänge.«
»Welchen Grund hat er gehabt?«
»Anscheinend einen ziemlich guten, oder? Denn er hat sich freiwillig in ein Gebäude begeben, das eine Falle hätte werden können: praktisch auf Straßenebene, in einem verkehrsreichen Gebiet, unter erschwerten Zielbedingungen an einem Ort, dessen spezielle Eigenschaften ihn zu dem besten Tatort gemacht haben, den ein Veteran wie Emerson in zwanzig Dienstjahren gesehen hat.«
»Okay, erzählen Sie mir, weshalb er das getan hat.«
»Weil er sich buchstäblich alle Mühe gegeben hat, so viele Spuren wie nur möglich zu hinterlassen.«
Sie starrte ihn an. »Das ist verrückt!«
»Die am Tatort gesicherten Spuren waren einfach großartig. Darüber war jedermann so selig, dass niemand sich überlegt hat, dass sie viel zu großartig waren. Ich auch
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