Jack Reacher 09: Sniper
gebrochenen Federn und ausgeleierte Limousinen, die ihre dritten hunderttausend Meilen zur Hälfte hinter sich hatten. In einer Parkbucht etwas abseits standen zwei Fahrzeuge nebeneinander. Die Autos der Mitarbeiter, vermutete Reacher. Sie durften nicht auf den besten Plätzen in Eingangsnähe parken, wollten ihre Wagen aber bei einem Blick aus dem Fenster sehen können. Der eine war ein Vierzylinder-Chevy, der andere ein kleiner Geländewagen von Toyota. Der Chevy hatte verchromte Silhouetten liegender Frauen auf den Schmutzfängern, sodass der Toyota der Rothaarigen gehören musste. Zumindest war das Reachers Schlussfolgerung.
Er ging hinein. Die Luft war sehr stark gekühlt und voller beißender chemischer Gerüche. In dem Laden befanden sich etwa ein Dutzend Kunden, die sich nur umsahen. Im Bereich hinter dem Eingang enthielten die Regale hauptsächlich Glitzerzeug aus Chrom und Glas. Zubehör zur »Verschönerung«, vermutete Reacher. Nach hinten hin schlossen sich Regale mit Dingen in roten Schachteln an. Kupplungsscheiben, Bremsklötze, Kühlerschläuche und dergleichen, nahm er an. Ersatzteile. Er hatte noch nie Teile eines Autos ausgewechselt. In der Army hatte es Männer gegeben, die ihm diese Arbeit abnahmen, und seit er nicht mehr in der Army war, hatte er kein eigenes Auto besessen.
Zwischen dem glitzernden und dem langweiligen Zeug befand sich eine Serviceinsel aus vier Theken, die ein Quadrat bildeten. Dort gab es Registrierkassen, Computer und dicke Handbücher. An einem der Computer stand ein hochgewachsener junger Mann Anfang zwanzig. Niemand, den Reacher schon einmal gesehen hatte. Keiner der fünf Kerle aus der Sport-Bar. Nur irgendein Mensch, der für den Laden verantwortlich zu sein schien. Er trug einen roten Overall. Eine Uniform, vermutete Reacher, die teils praktisch war, teils an die Overalls der Mechaniker beim Indy 500 erinnern sollte. Eine Art Symbol. Gewissermaßen ein Versprechen rascher, tatkräftiger Hilfe in allen autotechnischen Dingen. Der Mann war der Geschäftsführer, vermutete Reacher. Nicht der Firmeninhaber. Nicht, wenn er mit einem Vierzylinder-Chevy zur Arbeit fuhr. Über der linken Brusttasche prangte sein Name: Gary . Aus der Nähe betrachtet, wirkte er mürrisch und wenig hilfsbereit.
»Ich muss Sandy sprechen«, sagte Reacher zu ihm. »Die Rothaarige.«
»Sie ist gerade hinten«, antwortete der Kerl namens Gary.
»Soll ich hineingehen, oder wollen Sie sie herholen?«
»Worum geht’s denn?«
»Eine persönliche Angelegenheit.«
»Sie ist zum Arbeiten hier.«
»Es geht um eine juristische Sache.«
»Sie sind kein Cop.«
»Ich arbeite mit einem Anwalt zusammen.«
»Ich muss irgendeinen Ausweis sehen.«
»Nein, Gary, das müssen Sie nicht. Sie müssen Sandy herholen.«
»Das kann ich nicht. Ich hab heute einen Mann zu wenig.«
»Sie könnten sie anrufen oder ausrufen.«
Der Kerl namens Gary stand einfach nur da. Tat nichts. Reacher zuckte mit den Schultern, ging an der Serviceinsel vorbei und hielt auf eine Tür mit der Aufschrift »Nur für Personal« zu. Dahinter würde ein Büro oder Aufenthaltsraum liegen, vermutete er. Kein Lager. In einem Geschäft dieser Art kam die Ware sofort ins Regal. Ohne kostspielige Lagerhaltung. Reacher wusste, wie solche Läden heutzutage funktionierten. Er las die Zeitungen, die Leute in Bussen und Schnellrestaurants liegen ließen.
Es war ein Büro, ein kleiner Raum, ungefähr drei mal drei Meter, der von einem großen weißen Resopalschreibtisch mit öligen Handabdrücken beherrscht wurde. Dahinter saß Sandy – auch sie in einem roten Overall. Nur sah ihrer verdammt viel besser aus als der von Gary. Um ihre schmale Taille war er mit einem breiten Gürtel zusammengehalten. Der Reißverschluss stand ungefähr zwanzig Zentimeter weit offen. Ihr links eingestickter Name wurde viel hübscher präsentiert als der Garys. Hätte dieser Laden Reacher gehört, hätte er Sandy vorn verkaufen und Gary hinten im Büro arbeiten lassen, gar kein Zweifel.
»So sieht man sich wieder«, sagte er.
Sandy sagte nichts. Sah nur zu ihm auf. Sie war damit beschäftigt, Rechnungen zu kontrollieren. Links vor ihr lag ein Stapel, rechts vor ihr ebenfalls einer. Eine Rechnung hielt sie in der Hand – auf ihrem Weg von einem Stapel zum anderen mitten in der Luft erstarrt. Sie wirkte kleiner, als Reacher sie in Erinnerung hatte, stiller, weniger lebhaft, fast träge. Deprimiert.
»Wir müssen miteinander reden«, sagte er.
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