Jack Reacher 09: Sniper
Nachtportier schwor Stein und Bein, die Tote nicht gekannt zu haben. Das Hotel beherbergte nur elf Gäste, von denen keiner vielversprechend war. Als erfahrener und talentierter Kriminalbeamter wusste Emerson, dass die Leute manchmal die Wahrheit sagten. Und er wusste, dass die Fähigkeit, die Wahrheit zu akzeptieren, ein ebenso wichtiger Teil des Handwerkszeugs eines Kriminalbeamten war wie die Fähigkeit, Lügen aufzudecken. Also besprach er sich mit Donna Bianca, und sie kamen beide zu dem Schluss, den größten Teil der letzten drei Stunden vergeudet zu haben.
Dann rief ein Kerl namens Gary aus dem Geschäft für Autoersatzteile an.
Gary war um acht Uhr zur Arbeit gekommen und hatte festgestellt, dass er an diesem Tag wirklich zu wenig Personal hatte. Jeb Oliver blieb weiterhin verschollen, und Sandy fehlte nun ebenfalls. Anfangs war er verärgert gewesen. Er hatte bei ihr zu Hause angerufen, aber dort niemand angetroffen. Hierher unterwegs , hatte er angenommen. Verschlafen . Aber Sandy war nicht aufgekreuzt. Danach hatte er alle halbe Stunde angerufen. Um halb zehn war er mehr besorgt als verärgert und begann, an Verkehrsunfälle zu denken. Also rief er die Cops an, um Informationen zu erhalten. Der Mann am Telefon erklärte ihm, seit dem Vorabend sei kein Verkehrsunfall gemeldet worden. Dann folgte eine bedeutungsvolle Pause, während der Kerl am Telefon über eine andere Möglichkeit nachzudenken schien, bevor er einen Namen und eine Personenbeschreibung verlangte. Gary beschrieb Alexandra »Sandy« Dupree, neunzehn, weiß, zierlich, rot und grün. Zehn Sekunden später sprach Gary mit einem Kriminalbeamten, der Emerson auf seinem Handy anrief.
Gary erklärte sich bereit, das Geschäft für den Vormittag zu schließen. Emerson schickte einen Streifenwagen los, der ihn abholte. Die erste Zwischenstation war das Leichenschauhaus. Gary identifizierte die Tote. Er sah bleich und sichtlich mitgenommen aus, als er in Emersons Büro kam. Donna Bianca beruhigte ihn, während Emerson ihn aufmerksam beobachtete. Statistiken zeigten, dass Frauen mit größerer Wahrscheinlichkeit von Ehemännern, Partnern, Brüdern, Arbeitgebern oder Arbeitskollegen ermordet wurden, als von zufällig vorbeikommenden Fremden. Und manchmal waren Partner und Arbeitskollege identisch. Emerson wusste jedoch, dass Gary nicht als Täter infrage kam. Er stand zu sehr unter Schock. Niemand konnte sich so schockiert und von etwas überrascht zeigen, das er bereits seit acht oder zehn Stunden wusste.
Also begann Emerson in freundlichem Tonfall mit den üblichen Copfragen. Wann haben Sie sie zuletzt gesehen? Was wissen Sie über ihr Privatleben? Angehörige? Partner? Expartner? Seltsame Anrufe? Hatte sie Feinde? Probleme? Finanzielle Schwierigkeiten?
Und dann die unvermeidliche Frage: Ist in den letzten Tagen irgendwas Ungewöhnliches passiert?
Und so wusste Emerson wenige Minuten später alles über den Unbekannten, der am Vortag in Garys Geschäft gekommen war. Auffällig groß, muskulös, braun gebrannt, aggressiv, schwierig, mit olivgrüner Hose und olivgrünem Flanellhemd bekleidet. Er hatte im rückwärtigen Büro zwei geheimnisvolle Gespräche mit Sandy geführt, sich ihren Wagen geliehen und Gary mit Drohungen gezwungen, Jeb Olivers Adresse herauszugeben … und Jeb Oliver wurde jetzt ebenfalls vermisst.
Emerson ließ Gary bei Donna Bianca zurück, ging auf den Flur hinaus und nahm sein Handy, um Alex Rodin in seinem Büro anzurufen.
»Heute ist Ihr Glückstag«, begann er. »Wir haben eine Neunzehnjährige, die ermordet worden ist. Jemand hat ihr das Genick gebrochen.«
»Wieso bringt mir das Glück?«
»Ihr letzter ungeklärter Kontakt war gestern an ihrem Arbeitsplatz mit einem Kerl, der verdammte Ähnlichkeit mit unserem Freund Jack Reacher hat.«
»Tatsächlich?«
»Wir haben eine ziemlich gute Personenbeschreibung von ihrem Boss. Und der Täter hat ihr das Genick mit einem einzigen Faustschlag an die rechte Schläfe gebrochen, was nicht leicht ist, wenn man kein Kraftprotz wie Reacher ist.«
»Wer ist die Ermordete?«
»Eine Rothaarige aus dem Autozubehörgeschäft an der Straße in Richtung Highway. Aus diesem Geschäft wird auch ein junger Mann vermisst.«
»Wo ist die Tat passiert?«
»Hinter dem Hotel Metropole Palace.«
»Wohnt Reacher nicht dort?«
»Nicht laut Gästebuch.«
»Ist er nun verdächtig oder nicht?«
»Im Augenblick sieht er tatsächlich wie der Hauptverdächtige aus.«
»Wann
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