Jack Reacher 09: Sniper
heraus und legte sie beiseite. Sie würde sie sich zu Hause auf ihrem Videorecorder ansehen müssen. Im Büro besaß sie keinen. Auch keinen Fernseher.
Im Coffeeshop des Hotels Marriott gab es einen Fernseher. Er hing hoch oben in einer Ecke an einem an die Wand geschraubten schwarzen Schwenkarm. Der Ton war ausgeschaltet. Reacher verfolgte einen Werbespot, in dem eine junge Frau in einem dünnen Sommerkleid durch eine Blumenwiese lief. Er wusste nicht genau, für welches Produkt eigentlich geworben wurde. Vielleicht für das Kleid oder ein Make-up, ein Shampoo oder ein Heuschnupfenmittel. Dann wurde mit einer Laufschrift die Nachrichtensendung Noon Report angekündigt. Reacher sah auf seine Armbanduhr. Punkt zwölf Uhr. Er schaute zur Rezeption in der Hotelhalle, die er von seinem Platz aus gut im Blick hatte. Von Hutton keine Spur. Noch nicht. Also sah er wieder zum Fernseher. Ann Yanni war im Bild. Sie schien irgendwo in der Innenstadt auf der Straße zu stehen. Vor dem Hotel Metropole Palace . Nachdem sie einen Augenblick ernst, aber ohne Ton gesprochen hatte, wurden Aufnahmen eingespielt, die bei Tagesanbruch entstanden sein mussten. Eine Gasse. Polizeiabsperrungen. Eine formlose Gestalt unter einem weißen Laken. Dann nochmals ein Schnitt. Als Nächstes wurde ein Führerscheinfoto gezeigt. Blasser Teint. Grüne Augen. Rotes Haar. Knapp unter dem Kinn der eingeblendete Name: Alexandra Dupree.
Alexandra. Sandy.
Jetzt sind sie zu weit gegangen , dachte Reacher.
Ihn fröstelte.
Erheblich zu weit.
Er starrte den Bildschirm an. Sandys Gesicht war noch sekundenlang zu sehen. Dann wieder ein Schnitt, noch einmal die Szene bei Tagesanbruch, danach ein Brustbild von Emerson. Ein aufgezeichnetes Interview. Yanni hielt ihm ihr Mikrofon unter die Nase. Er redete gerade. Yanni zog das Mikrofon an sich und stellte eine Zwischenfrage. Emerson sprach weiter. Im grellen Licht des Kamerascheinwerfers war sein Blick ausdruckslos, leer und müde. Auch ohne Ton wusste Reacher, was er sagte. Er versprach gründliche Ermittlungen und vollständige Aufklärung. Wir fassen den Kerl , formten seine Lippen gerade.
»Ich habe dich von der Rezeption aus gesehen«, hörte er eine Stimme sagen, »und habe mir gedacht: Kenne ich diesen Kerl nicht?«
Als Reacher vom Fernseher wegsah, stand Eileen Hutton direkt vor ihm.
Sie trug ihr Haar kürzer und war nicht sonnengebräunt. Um die Augen herum entdeckte er winzige Fältchen. Aber ansonsten sah sie genauso aus wie damals vor vierzehn Jahren. Und ebenso gut. Mittelgroß, schlank, selbstsicher. Gepflegt. Gut duftend. Betörend weiblich. Sie hatte nicht ein Pfund angesetzt und trug Zivil. Khakifarbene Hose, weißes T-Shirt, darüber eine offen getragene blaue Oxfordbluse. Weiche Mokassins, keine Socken, kein Make-up, kein Schmuck.
Kein Ehering.
»Erinnerst du dich an mich?«, fragte sie.
Reacher nickte.
»Hallo, Hutton«, sagte er. »Natürlich erinnere ich mich an dich. Und ich freue mich, dich wiederzusehen.«
Sie hatte eine Handtasche unter dem Arm und eine Schlüsselkarte in der Hand. Neben ihr stand ein kleiner Rollkoffer mit langem Griff.
»Ich freue mich auch, dich wiederzusehen«, sagte sie. »Aber bitte sag mir, dass du rein zufällig hier bist. Bitte!«
Betörend weiblich, aber noch immer eine Frau in einer Männerwelt. Man konnte weiter die Härte in ihr sehen, wenn man wusste, wo man sie zu suchen hatte. Nämlich in ihren Augen. Sie blinkten wie ein Börsenticker – warm, warm, willkommen, willkommen -, aber dazwischen blitzte hie und da eine Warnung auf: Legst du dich mit mir an, reiße ich dir den Kopf ab.
»Komm, setz dich«, sagte Reacher. »Wir können zusammen essen.«
»Essen?«
»Das tun Leute mittags.«
»Du hast mich erwartet. Du hast hier auf mich gewartet.«
Reacher nickte. Sah nochmals zu dem Fernseher auf. Dort wurde wieder Sandys Führerscheinfoto gezeigt. Hutton folgte seinem Blick.
»Ist das die Tote?«, fragte sie. »Ich habe die Meldung unterwegs im Autoradio gehört. Klingt fast so, als müsste jeder, der hierherkommt, eine Gefahrenzulage bekommen.«
»Was hat das Radio gemeldet? Hier gibt’s keinen Ton.«
»Mord. Irgendwann nach Mitternacht. Einer jungen Einheimischen ist das Genick gebrochen worden. Mit einem einzigen Schlag an die rechte Schläfe. In einer Durchfahrt neben einem Hotel. Nicht neben diesem, hoffe ich.«
»Nein«, sagte Reacher. »Nicht neben diesem.«
»Brutal.«
»Scheint so.«
Eileen Hutton nahm Platz. Nicht ihm
Weitere Kostenlose Bücher