Jacks Briefe
wiedersehen würden. Was würde sie tun, solange ohne ihn? Ihre Sehnsucht wuchs von Tag zu Tag mehr. Und nun sollte sie vielleicht weitere Monate darauf warten, ihn endlich wieder bei sich zu haben? Wie sollte sie das nur durchstehen? So gut es ging, versuchte sie, diese Gedankengänge zu unterdrücken und redete sich ein, dass es mit seiner Beurlaubung schon klappen würde. Ein heftiger Sturm riss sie aus ihren Überlegungen. Ihr Hut, dessen Schleife sie, bei dem eiligen Verlassen des Hauses, nicht zugebunden hatte, wurde vom Wind davon getragen und nur von einer hervorstehenden Mauer der Ruine, von seinem weiteren Flug abgehalten. Katelyn sah hinauf zum Himmel, wo sich weiteres Unheil ankündigte. Sie griff nach ihrem Hut, um schnell nach Hause zu laufen, bevor sie gänzlich vom Unwetter eingeholt werden würde. Ihre Hutschleife hatte sich an einem der losen Steine der Mauer verfangen und löste diesen nun vollständig aus dem Werk. Katelyn hob den Stein an, ging in die Knie, um sich den großen Hohlraum, den er hinterlassen hatte, näher zu betrachten. Er war so groß, dass eine Katze mühelos Platz darin gefunden hätte. Es begann zu regnen, als würden ganze Eimer voll Wasser auf das Land herab gelassen. Rasch verstaute sie Jacks Brief in ihrem Kleid und rannte eilig zurück zum Haus.
Inverness 2012
„Interessant!“, sprudelt es aus James hervor. „Mhm, was meinst du?“, fragt Jane, stellt sich hinter seinen Stuhl und blickt über seine Schulter auf den Brief, den er soeben vorgelesen hat. Doch James springt, ohne ein Wort zu ihr, auf, geht zu einem der Bücherregale und kramt ein verblasstes Buch heraus, in dem er hastig blättert. „Hier ist es!“, sagt er und legt das Buch auf den Tisch. „Was ist das?“, will Jane wissen. Sie dreht das Buch herum und liest auf dem Einband, dass es von der Geschichte Schottlands handelt. „Das ist doch nicht möglich“, ruft James aus und in seinem Blick zeichnet sich seine ganze Faszination ab.
„Was denn?“, Jane kann ihm nicht folgen. Er tippt mit seinem Zeigefinger auf eine Seite des Buchs, deren Überschrift lautet: „Das Massaker von Glencoe.“ Jane liest sich die Seite durch. „Glencoe? Das hat er doch in seinem Brief erwähnt“, stellt sie fest und James bestätigt dies nickend, ehe er erklärt. „In Glencoe wurde 1692 einer der schrecklichsten Clanmorde überhaupt verübt. Das Gebiet nennt man hier in Schottland seither: das Tal der Tränen . Es gab keine Überlebenden. So steht es hier in dem Buch zumindest. So wurde es überliefert.“ Jane begreift. Durch diese Briefe muss der Ausgang von Glencoe neu geschrieben werden. Denn es gab einen Überlebenden und das war Jack. Jane liest sich das Kapitel über Glencoe nun ganz durch. „Meinst du er wusste, dass es William Campbell war, der den Befehl für das Massaker ausgeführt hat? Er war Katelyns Vater, oder nicht?“, fragt Jane, als sie zu Ende gelesen hat. James nickt. „Ja, das war er. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jack es wusste. Laut diesem Brief hat er nach den Glencoe Morden, bei ihm und seiner Familie auf Haimsborrow gelebt. Ich denke, wenn er davon gewusst hätte, hätte er das im Brief erwähnt, in irgendeiner Weise.“
„Was denkst du, wie es dazu kam? Ich meine, dass er überhaupt dort gelandet ist?“, fragt Jane, die mittlerweile seine Faszination für die Geschichte teilt. Er prustet vor sich hin. „Ich kann es mir nur so erklären, dass er ihn vielleicht verschont hat. Aus welchem Grund auch immer. Oder, Jack ist entkommen und irgendwann in Haimsborrow aufgetaucht und dort hat sich die Familie seiner angenommen.“
„Was meint er damit? Er schreibt, dass die Verantwortlichen nicht zur Rechenschaft gezogen wurden. Wurde niemand wegen des Mordens verurteilt?“, möchte Jane wissen und blättert hastig in dem Geschichtsbuch.
„Erst viel später kam es überhaupt ans Licht und die Mörder wurden nie wirklich dafür angeklagt, was sie den Highlandern angetan haben“, erklärt ihr James.
Jane ist schockiert. James kann dies unschwer an ihrem Blick erkennen. Er fügt hinzu: „Tja, so war das damals eben. Die Menschen waren weit entfernt von Recht und Ordnung und als Highlander, war man nun einmal nichts wert. Alle wollten einen loswerden. Die Clans waren als Outlaws verschrien und gegen die, ging man eben genau so vor.“
Jane setzt sich sprachlos an den Tisch zurück, ihre Gedanken kreisen um die bedauernswerten Menschen, welche an jenem Ort umkamen.
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