Jacob beschließt zu lieben - Roman
als ob den Toten viel mehr Gewalt angetan worden war als den Lebenden. Zwischen ihnen lagen auch Schädel, eingedrückte und unvollständige oder solche, die so perfekt waren, als ob der Tote sich erst vor Kurzem in die Erde gelegt hätte.
Auf einem zweiten Tisch, den ich erst später bemerkte, hatte Popa Pamfilie aus gefundenen Teilen ein Skelett zusammengesetzt, es fehlten nur noch ein Arm und die Füße. Inzwischen fühlte ich mich wieder sicher, und ich ging durch jene sonderbare Reparaturwerkstatt nicht anders als auf unserem Friedhof umher. Solche Orte, wo die Toten in der Mehrzahl waren, waren mir vertraut. Der Pope hatte die ganze Zeit kein einziges Wort gesagt, er lehnte an der Wand und strich sich über seinen Bart. Er beobachtete mich, während ich einen Schädel hob und ihn drehte oder die Hand in einen Sack steckte und einen Knochen herauszog, den ich wiederum genau examinierte.
«Fürchtest du dich nicht vor dem Tod?», fragte er.
«Vor dem Tod schon, aber nicht vor den Toten.»
«Das ist sehr gut, denn Furcht wäre nur hinderlich», meinte er.
Ich wusste, dass ich eine Art Prüfung oder Probe bestanden hatte, doch nicht, wozu. Was machte Popa Pamfilie mit all den Knochen, und weshalb rief er immer Zahlen über den Fluss, als ob die Knochen Äpfel wären, die er auf dem Markt erworben hatte? Und noch mehr als alles andere ließ mich die Frage nicht los, wo das denn alles herkam? Es konnten unmöglich Dorfbewohner sein, denn bei einem solchen Massensterben wäre die Gegend in Kürze menschenleer gewesen. So wie man täglich Brunnenwasser holte, so holte der Pope aus irgendeinem versteckten Brunnen täglich Knochen hervor.
Zurück in der Stube, schenkte er uns wieder Schnaps ein, zu meinen Erinnerungen an jene Zeit gehört auch, dass wir ständig beschwipst waren. Es gab immer eine Gelegenheit für Schnaps oder ein Glas Wein. Dass es regnete oder nicht mehr regnete, dass wir vor einem christlichen Festtag standen oder mittendrin. Dass wir Gott dankten für das viele, das er uns schenkte, oder zufrieden sein sollten mit dem wenigen, das wir hatten.
Es gab Wein nach jeder Taufe und Trauung und Schnaps nach jedem Toten, dem er die Begräbnisfeier gehalten hatte. Denn, so behauptete er, der Schnaps bewahre uns vorm Sterben, der Wein aber helfe uns zu leben. Und so war ich nie ganz nüchtern und hielt womöglich den Vorschlag des Popen nur deshalb für nachvollziehbar und vernünftig.
«Seit vierzig Jahren grabe ich hier Knochen aus, und es nimmt kein Ende», sagte er. «Der ganze Berg ist voll davon. Die Bauern meiden ihn, denn sie sind abergläubisch. Sie kommen höchstens bis zum Pfarrhaus, aber weiter gehen sie nicht. Jeden Tag tauchen Knochen auf, manchmal an derselben Stelle, an der ich am Vortag gegraben habe.Manchmal liegen sie an der Oberfläche, man braucht sie nur herauszuziehen. Als ob der Berg Knochen gebären würde. Aber du wirst es selber sehen.»
«Ich?», fragte ich verwundert.
«Ich brauche einen wie dich, der mir bei der Arbeit hilft. Du bist noch nicht kräftig genug, das weiß ich, aber bei mir war es nicht anders, als ich damals als junger Pope hierhergeschickt wurde. Es gab nicht viel zu tun, damals wie heute. Einige sterben, andere heiraten, dazwischen hat man jede Menge Zeit, um vor Langeweile verrückt zu werden. Also bin ich durch die Gegend gestreift, bis ich eines Tages nach einem Gewitter über einen Oberschenkelknochen gestolpert bin. Ich habe dann angefangen zu graben und bis heute nicht mehr aufgehört. »
«Was tun Sie mit all den Knochen?», fragte ich.
«Das, was meine Pflicht ist. Ich wasche sie, setze sie wieder zusammen und bestatte sie nach unseren christlichen Gebräuchen.»
«Und wieso sammeln Sie sie im Keller?»
«Das geht nicht anders, solange der Fluss es nicht zulässt, dass ich sie auf die andere Seite bringe, wo die Kirche und der Friedhof stehen. Gigi baut für jeden Einzelnen einen Sarg, das muss schon sein. Über mangelnde Arbeit kann er nicht klagen. So schnell, wie ich grabe, kann er kaum Särge bauen. Wenn es wieder möglich sein wird, das Ganze rüberzubringen, dann wird sich der Keller wieder leeren.»
«Ist es das, was Sie ihm über den Fluss zurufen? Wie viele Särge er bauen soll?»
«Genau. Je nachdem, wie viele Skelette ich an einem Tag zusammenfügen konnte.» Popa Pamfilie zog Schuhe und Hose aus, legte sein Hemd über eine Stuhllehne undstellte sich vor eine Ikone. Er verbeugte und bekreuzigte sich mehrmals mit der Routine eines
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