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Jacob beschließt zu lieben - Roman

Jacob beschließt zu lieben - Roman

Titel: Jacob beschließt zu lieben - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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wir dich?», fragte Sarelo.
    «Auf dem Friedhof. Bei der Gruft der Damas», antwortete ich.
    Er schaltete die Petroleumlampe aus und öffnete die schmale, niedrige Tür auf der Rückseite des Stalls. Aus der Nachbarschaft hörte man Stimmen, russische, die ständig: «Dawai! Dawai!» riefen, und deutsche, die flehten und schrien, ohne dass es ihnen etwas nützte. Es war ein Chor der Hoffnungslosigkeit. Nur die Dorfhunde bellten, sie waren die Einzigen, die verzweifelten, aussichtslosen Widerstand leisteten. Dann hörte ich Mutter, die nach Großvater rief, und Vater, der fluchte.
    Ich steckte das Bündel unter den Arm, stellte den Jackenkragen hoch und blickte Großvater ein letztes Mal an. Er nickte mir zu, zum Abschied oder als Bestätigung, dass ich nun wirklich wegmusste. Ich schob mich durch die Öffnung hindurch ins Freie, ohne zu wissen, dass ich mich dadurch für immer von meiner Kindheit und der Welt, die ich kannte, verabschiedete.
    Während ich geduckt und im Schutz der Dunkelheit durch die Hintergärten schlich und alle paar Meter aufhorchte, sah ich, wie Freunde und Nachbarn auf den Lastwagen zusammengepfercht wurden. Manche wurden ihren Müttern entrissen, an die sie sich trotz ihres Alters klammerten. Andere folgten stumm, weil sie begriffen hatten, dass nichts mehr zu machen war. Da stand auch unser Pfarrer, hilflos und verloren, und versuchte bestimmt, jemanden zu Hilfe zu rufen, der sich seit vielzu langer Zeit nicht mehr gezeigt hatte. Dann kam ich bei den Toten an.
    Um mich in meinem Versteck von dem abzulenken, was mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks über mich hereinbrach – Vaters Zorn, der sich an den kleinsten Dingen entzünden konnte –, hatte ich mir angewöhnt, mich in meine Fantasie zurückzuziehen. Das tat ich auch an dem Tag, als die Russen hinter mir her waren. Ich zündete eine der Kerzen an, die ich dort zusammen mit einer Streichholzschachtel aufbewahrte, doch ein Luftzug blies sie wieder aus. Erst nach mehreren Versuchen gelang es mir, ich lehnte mich zurück und hörte dem Zischen des Windes zu, der über das Land zog und die Menschen peitschte, ganz ohne Unterschied.
    * * *
    Wann immer man mich auf meine Geburt ansprach, fragte ich: «Welche?» Denn ich hatte zwei gehabt. Die erste war verbürgt durch die Macht, die Großvater über mich hatte. Eine Macht, die er nie beweisen musste und die fortwährend wirkte, obwohl er längst vor Vater kapituliert hatte.
    Er wachte früh auf an jenem Herbsttag im Jahre 1926. Er trieb die Kühe, die Schweine und die Pferde auf den Acker hinter dem Haus und brachte den Karren in den Stall. Er lud wie an den Vortagen den ganzen Mist seiner Tiere auf, dann spannte er zwei seiner Pferde vor den Karren und schützte ihre Augen und Nüstern mit einem Tuch vor den Mücken und Bremsen.
    Die Insekten waren auch Großvater lästig, immer wieder legte er die Schaufel ab und versuchte, sie sich aus dem Gesicht und den Kleidern zu vertreiben. An den Geruchund die Arbeit hatte er sich seit der Kindheit gewöhnt, es gab nichts, was er nicht schon hundertfach getan hatte.
    Großvater musste alles allein tun, denn Vater war in der Stadt, wo er auf ein verspätetes Schiff aus Wien wartete, das mit landwirtschaftlichen Maschinen beladen war, die er vor einem halben Jahr bestellt hatte. Die ungarischen Landarbeiter waren in jenem Jahr nicht aufgetaucht, und die rumänischen hatte man schon entlassen, weil die meisten Feldarbeiten erledigt waren. Das Winterweizenfeld musste noch gedüngt werden, dann konnte schon der erste Schnee fallen, vielleicht sogar im November.
    Er ging ins Haus zurück und weckte seine Tochter. Während sie das Frühstück vorbereitete, holte er Wasser vom Brunnen und wusch sich in der Küche neben dem Herd. Danach kam Mutter dran, die mit langsamen Bewegungen den Lappen über ihren runden Bauch führte. Es fehlten nur noch zwei Monate bis zur Geburt. An den Rändern des Himmels brach der Tag an, zuerst war es nur ein Lichtschimmer, ein schmaler Spalt, der aber von Minute zu Minute breiter wurde.
    «Bist du dir sicher, dass du kommen willst?», fragte Großvater. «Ist es nicht zu anstrengend?»
    «Du brauchst doch jemanden, der auf die Pferde aufpasst. Außerdem, was soll ich hier so ganz allein?»
    Sie gingen zügig neben dem Karren her, Großvater hielt die Zügel der Pferde, deren Augen immer noch verdeckt waren, fest in der Hand. Manchmal flüsterte er ihnen seine Befehle zu, wie wenn er nur mit sich selbst gesprochen hätte. Sie

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