Jade-Augen
sie je erfahren, was geschah? Wenn Akbar Khan ihr Urteil sprach, würde er ihr sagen, welches Schicksal er für den Feringhee bestimmt hatte?
Sie war mit ihren Ängsten lange Zeit allein, bis die schwarzgekleidete Frau hereinschlurfte und ihr eine Schale Quark und Fladenbrot zum Frühstück brachte. Die Nahrung belebte Annabels Kräfte, und als sie mit dem Essen fertig war, zog sie ihr Bett unter die Fensteröffnung, um sich daraufzustellen und in den Hof hinunterzublicken. Akbar Khan war, auf dem Rücken seines Schiachtrosses und mit einer ansehnlichen Streitmacht um sich versammelt, im Scheiden begriffen.
Sie starrte überrascht hinab, auf Zehenspitzen stehend, als ob sie sich des Anblicks vergewissern müßte. Wollte er sie einfach zurücklassen? Sie hatte gehört, wie er seine weiteren Pläne mit den Männern auf dem Ritt vom Khoord-Kabul-Paß hierher besprach, sie wußte also, daß er nach Jalalabad marschieren wollte, um sich dort mit den anderen Sirdars und ihren Kriegern zu treffen und die Stadt zu belagern. Aber was würde mit ihr geschehen? Und was mit Kit? Hatte er sich mit dem Feringhee- Gesetzesübertreter schon befaßt und entschieden, Ayesha den Qualen der schrecklichen Ungewißheit in ihrem Gefängnis zu überlassen?
Das würde das Maß der Grausamkeit, zu dem er, wie sie wußte, fähig war, keineswegs überschreiten. Und seit sie zu ihm zurückgekehrt war, hatte er nichts von der Milde, dem Humor und dem Verständnis an den Tag gelegt, mit denen er ihr in der Vergangenheit entgegengetreten war. Sie hatte erwartet, bestraft zu werden, aber nach dem Geschenk einer solchen Nacht trat in ihre sorgfältig eingefädelte Unkenntnis und Isolation eine Wahrnehmungsfähigkeit, die alles überschritt, was sie sich hatte vorstellen können.
Sie stieg von dem Bett herunter und zitterte, nicht nur wegen der alles durchdringenden Kälte in dem steinernen Zimmer. Sie hatte das Feuer in den verträumten Stunden seit Kits Abschied vernachlässigt und wandte sich nun tatkräftig der Aufgabe zu, es wieder in Gang zu bringen. Sie besaß nichts, womit sie sich beschäftigen konnte, um die endlosen Stunden zu verkürzen, keine Bücher, kein Schreibgerät, keine häuslichen Aufgaben. Sie hatte weder Pferd noch Falke … nicht einmal die Freiheiten eines Zenana. Was sollte sie in den Wochen von Akbar Khans Abwesenheit tun? Und es würden einige Wochen werden.
Diese düsteren Gedanken stürzten sie in tiefe Verzagtheit. Sie begann, die Rubaijata von Omar Chajjam vor sich hinzusprechen und suchte nach einer Übersetzung vom Persischen ins Englische, um wenigstens ihren Geist zu beschäftigen, wenn sie schon für ihren Körper nichts tun konnte. Aber sie war nach der schlaflosen Nacht müde, und schließlich legte sie sich auf das Bett unter die Felle.
Sie hatte nicht mehr als eine halbe Stunde geschlafen, als sich ihre Tür knarrend öffnete und die Dienerin hereinschlüpfte, um sie wachzurütteln.
»Männer kommen dich holen«, sagte die Frau. »Du mußt dich verschleiern.«
Sie holen, wozu? Ayesha setzte sich auf, schüttelte den Schlaf aus den Gliedern. Es gab also doch Befehle zu ihrem Schicksal. Sie konnte keine Angst in ihrem Herzen entdecken, nur Erleichterung darüber, daß etwas geschah. Nichts schien ihr beklemmender als die Aussicht, auf unbestimmte Zeit von allen Geschehnissen der Außenwelt abgeschnitten zu sein.
»Sag ihnen, sie sollen warten«, verlangte sie. Die Frau starrte sie verständnislos an. Frauen hatten Männern keine Befehle zu erteilen.
»Sag ihnen, daß ich gleich fertig bin«, verbesserte sich Ayesha sanft. Diese Männer wußten natürlich nichts von den ungewöhnlichen Freiheiten, die Akbar Khans Favoritin zugestanden waren. Man konnte es ihnen kaum zum Vorwurf machen, daß sie ihr die gewohnten Höflichkeiten vorenthielten, war doch Akbar Khans Favoritin eine Gefangene in dieser elenden Festung.
Die Frau schlurfte nach draußen, und Ayesha schwang sich aus dem Bett, wusch sich den Schlaf aus den Augen und befestigte ihren Schleier. Kits Schal hatte man ihr schon vor einer Weile genommen und durch einen echten Schleier ersetzt. Bei dem Gedanken an ihn drehte sich ihr plötzlich alles im Kopf, sie nahm seinen Geruch wahr, und die Wärme seines Körpers erfüllte auf einmal die Luft, so kraftvoll und spürbar, als stünde er neben ihr.
»Sag ihr, sie soll sich beeilen. Wir können nicht wegen den Launen einer Frau warten!«
Die rauhen Worte aus dem Gang rissen sie zurück in die
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