Jade-Augen
Wirklichkeit. Ängstlich erschien die verschleierte Dienerin in der Tür. »Bitte, beeil dich«, flehte sie.
»Ich bin fertig.« Ayesha trat an ihr vorbei in den Gang und überlegte, ob sie den drei Männern gegenüber eine selbstbewußte Haltung einnehmen sollte. Aber Akbar Khan war nicht in der Nähe, um ihr Glaubwürdigkeit zu verleihen, und schließlich kannte sie seine Befehle in bezug auf sich nicht. Sie senkte den Kopf und entbot ihren Gruß.
»Komm mit uns, Frau.«
Sie ging drei Schritte hinter ihnen, während sie das Zenana durchquerten und Frauen vor ihrem Herannahen flohen. Brachten sie sie fort, um sie zu steinigen, auszupeitschen oder hinzurichten? Hatte Akbar Khan sie dazu verurteilt, ihr Vergehen in seiner Abwesenheit zu sühnen? Das konnte sie sich beim besten Willen nicht vorstellen.
Sie betraten den Haupthof, die drei Männer nahmen sie nun in ihre Mitte und brachten sie zu einer Tür in der Südwand. Sie hörte Stimmen, bevor die Tür aufgestoßen wurde. Es waren die hohen Stimmen englischer Kinder, die gemeinsam einen Text wiederholten. Eine klare Stimme erhob sich über denen der Kinder, und sie erkannte aus der Zeit der Rückzugskolonne die Stimme von Mrs. Anderson, die die Kinder unterrichtete.
Sie blieb stehen und blickte ihre Bewacher von der Seite an, die sie brüsk anwiesen, das Gebäude zu betreten. »Du sollst mit den Frauen reden und dir sagen lassen, welche Bedürfnisse sie haben«, wurde ihr befohlen.
»Sind das Akbar Khans Anweisungen?«
»Du hast keine Fragen zu stellen. Geh hinein.«
Sie trat ein und stand in dem matt erleuchteten Raum, in dem Kinder in einem Halbkreis um die vor dem Feuer stehende Mrs. Anderson saßen und weitere Frauen sich an den Wänden entlang verteilten.
»Bitte, ich will Sie nicht stören«, Annabel winkte. »Wo kann ich Lady Sale finden?«
»Oh, Miss Spencer …?« Eine der jüngeren Frauen erhob sich und kam auf sie zu. »Wir haben uns schon gefragt, was Ihnen wohl zugestoßen sein mag.«
»Ich bin geschickt worden, um den Wachen Ihre Bedürfnisse zu übersetzen«, erklärte sie vorsichtig mit Blick auf ihre Bewacher, die sich verächtlich von den Feringhee- Frauenabwandten, weil diese keinerlei Bescheidenheit trotz der Anwesenheit von Männern an den Tag legten.
»Annabel?« Colin Mackenzie tauchte aus einem der inneren Zimmer auf. »Ich dachte, ich hätte Ihre Stimme erkannt.«
»Colin!« Selbstvergessen trat sie auf ihn zu.
Sofort griff eine grobe Hand nach ihrer Schulter und erinnerte sie mit einem rauhen Befehl an ihre Lage. Sie war eine afghanische Frau unter den Feringhees. Also senkte sie demütig den Kopf, murmelte schnell ein paar versöhnende Worte, und der Mann ließ sie mit finsterem Blick los.
Colin war blaß geworden, als begriffe er erst jetzt, daß sie dem Afghanen gehörte. »Ich werde Kit holen«, sagte er und achtete darauf, daß sein Gesicht und seine Stimme keine Regung zeigten.
Ihr Kopf ruckte nach oben, ihre Augen vor Hoffnung sprühend, dann eine drohende Bewegung hinter sich, und sie senkte den Kopf wieder mit der Frage: »Geht es ihm gut?«
»Ja, aber er steht Todesängste aus, weil er nicht weiß, was Ihnen zugestoßen ist«, antwortete Colin.
Einer ihrer Bewacher gebot schroff diesem fortgesetzten Gespräch Einhalt, und sie sagte: »Sie gestatten es mir nicht, mich direkt mit Männern zu unterhalten. Ich werde indirekt durch unser Frauengespräch mit Ihnen sprechen.«
»Ah, Miss Spencer. Laurie hat mir gesagt, daß Sie hier sind, aber ich konnte es kaum glauben.« Lady Sale wogte in den Raum, ihren verletzten Arm in einer Schlinge und ihre durchdringende Stimme so gewaltig wie immer. »Sie sollen, wenn ich richtig verstanden habe, die Verbindung zwischen uns herstellen.«
»So scheint es zu sein, Ma’am«, bestätigte Annabel und war erleichtert über das Eintreffen Ihrer Ladyschaft. Diese Dame würde die entschlossen wachsame Eskorte ein wenig ablenken. »Akbar Khan ist fort, aber man hat mir gesagt, daß ich mich danach erkundigen soll, was Sie vielleicht benötigen.« Sie blickte sich in dem Zimmer um, wo die Kinder und die übrigen Frauen sie mit großen Augen anstarrten und ihre Ohren aufsperrten.
»Sie sollten auch mit Major Pottinger sprechen«, erklärte Ihre Ladyschaft. »Er ist der dienstälteste politische Offizier.«
»Das wird mir nicht gestattet sein, Ma’am«, sagte Annabel schnell. »Ich weiß nicht genau, was Akbar Khan angeordnet hat oder warum, aber im Augenblick muß ich mich wie
Weitere Kostenlose Bücher