Jaeger
wissen, dass ich hier bin, und wollen mich mitnehmen. Es war der Telefonanruf am vorigen Abend gewesen oder die Kreditkarte, mit der sie das Zimmer bezahlt hatte. Sie hatten sie aufgespürt.
Ihr Herz begann heftig zu klopfen. Sie musste verschwinden. Sich irgendwie an ihnen vorbeimogeln, zum Wagen laufen und zusehen, dass sie wegkam. Tun, was die Entführer von ihr verlangten, und ihre Tochter zurückholen. Auf keinen Fall durfte sie sich in Polizeigewahrsam nehmen lassen.
Dann kam ihr ein anderer Gedanke. Sie sind gar nicht meinetwegen hier, sondern wegen einer ganz anderen Sache. Es ist völlig ausgeschlossen, dass sie mich so schnell gefunden haben. In dem Fall, überlegte sie weiter, wäre es das Beste, einfach weiterzugehen. An ihnen vorbei, zum Wagen und weg.
Aber etwas hielt sie davon ab. Paranoia. Ein sechster Sinn. Der Drang, keine unnötigen Risiken einzugehen. Irgendetwas.
Sie zog sich ein Stück zurück und spähte vorsichtig um die Ecke, um sicherzugehen, dass sie unbemerkt geblieben war. Das war sie. Gut. Sie drehte sich um und ging den Weg zurück, den sie gekommen war, wobei sie sich immer wieder umschaute. Plötzlich sah sie, wie die Rezeptionistin in ihre Richtung deutete, oder vielmehr in die Richtung des Trakts, in dem ihr Zimmer lag.
Ihr Herzschlag beschleunigte sich noch mehr. Sie lief zum Lift und drückte auf den Knopf. Der Lift war noch unten, weil sie kurz zuvor in ihm hinuntergefahren war. Die Türen öffneten sich. Marina hörte Schritte näher kommen.
Sie sprang in den Lift, drückte die Knöpfe für den ersten und den obersten Stock. Die Schritte wurden lauter, jetzt kamen auch Stimmen dazu. Die Türen schienen Jahrtausende zu brauchen, um sich zu schließen.
Aber irgendwann waren sie zu.
Gerettet. Langsam setzte sich der Lift in Bewegung. Bevor sie im ersten Stock hinaussprang, drückte sie auf den Knopf, der die Türen schloss. Der Lift fuhr weiter bis ins oberste Stockwerk.
Marina sah den Flur entlang. Weiter hinten stand ein Putzwagen, zwei Zimmermädchen schlossen die verlassenen Räume auf, zogen Bettwäsche ab und sammelten Handtücher ein.
Sie schaute in die andere Richtung. Links von ihr lag hinter einer schweren Doppeltür das Treppenhaus. Sie rannte hin, stieß die Türen auf. Lauschte. Hörte Schritte nach oben kommen. Stimmen.
Die beiden Polizisten.
Unvermittelt sah sie Josephinas Gesicht vor sich. Dann Phil, wie er bewusstlos dalag. Sie verdrängte die Bilder und dachte nach. Ihr Herz hämmerte, ihr Blick ging hektisch hin und her. Sie schloss die Tür zum Treppenhaus und trat den Rückzug in den Flur an.
Außer den Zimmermädchen war niemand zu sehen. Sie ging auf den Putzwagen zu.
Hinter ihr öffnete sich die Tür zum Treppenhaus.
Ohne sich umzudrehen, rannte Marina los, am Putzwagen vorbei. Verzweifelt hielt sie nach einem Versteck Ausschau.
Die Tür zu der Kammer, in der die Reinigungsutensilien aufbewahrt wurden, stand offen. Ohne nachzudenken, schlüpfte sie hinein und zog die Tür hinter sich zu.
Die Hand noch am Türgriff, drehte sie sich um.
Und sah sich einem weiteren Zimmermädchen gegenüber, das sie wortlos anstarrte.
Die Frau war eine junge Ausländerin, deren anfängliches Erstaunen rasch in Furcht umschlug. Sie öffnete den Mund – ob sie schreien oder etwas sagen wollte, wusste Marina nicht, aber sie konnte auch nicht riskieren, es abzuwarten.
»Entschuldigung.« Marina flüsterte so laut, wie sie es eben wagte. »Mein Ehemann.« Sie deutete zur Tür.
Das Zimmermädchen betrachtete sie weiterhin argwöhnisch.
»Er … Eigentlich dürfte ich gar nicht hier sein.«
Auch das schien die junge Frau nicht recht zu überzeugen. Vielleicht spricht sie kein Englisch , schoss es Marina durch den Kopf. Vielleicht versteht sie gar nicht, was ich sage. Da kommt aus heiterem Himmel eine Unbekannte mit wirren Haaren und zerrissenen Kleidern in die Besenkammer gesprungen, zieht die Tür hinter sich zu und hält sie praktisch gefangen. Marina konnte der jungen Frau nicht verübeln, dass sie sich fürchtete.
Die Stimmen kamen näher.
Marina wandte sich wieder der jungen Frau zu, die die Stimmen ebenfalls gehört hatte. Sie sah aus, als wäre sie drauf und dran, um Hilfe zu rufen.
Fieberhaft überlegte Marina, womit sie die Frau überzeugen könnte.
»Mein Mann, er …« Sie nahm die Hand vom Türgriff und tat so, als würde sie sich selbst ins Gesicht schlagen. Dann zeigte sie zur Tür, hinter der die Stimmen immer lauter wurden.
Jetzt endlich
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