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Jaeger

Jaeger

Titel: Jaeger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tania Carver
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unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass diese zwei Welten niemals aufeinanderprallen. Oder wenigstens so selten wie möglich. Und das tun wir … Wissen Sie, wie wir das tun?«
    Mickey hatte geantwortet, dass er es nicht wisse.
    »Wir tun das, indem wir den Stummen eine Stimme geben. Indem wir für sie sprechen. Für die Ermordeten, die Vergewaltigten, die Verstümmelten. Für die Opfer. Wir sind ihre Stimme. Wir finden die, die sich an ihnen schuldig gemacht haben.« Er hatte nach seinem Glas gegriffen und erstaunt festgestellt, dass es leer war. »Kapitalverbrechen. Das Wort beschreibt es nicht mal ansatzweise. Wir sind die Torwächter, Mickey. Das Einzige, was die zwei Welten voneinander trennt. Vergessen Sie das niemals, Mickey. Vergessen Sie das niemals.«
    Mickey hatte es nicht vergessen. Am nächsten Morgen auf der Arbeit hatte er keine Witze darüber gemacht, was sein Boss in angetrunkenem Zustand so alles erzählt hatte. Er hatte sich seinen nächsten Fall vorgenommen – einen Doppelmord an Zwillingsschwestern im Teenageralter – und Phils Mahnung beiseitegeschoben. Doch als er schließlich ausreichend Beweise gegen den Mörder – den Vater der Mädchen – gesammelt hatte, so dass dieser verhaftet, angeklagt und verurteilt werden konnte, waren ihm Phils Worte wieder in den Sinn gekommen. Und auf einmal hatte er nichts Komisches oder Albernes mehr an ihnen gefunden. Sie waren lediglich eine wahrheitsgetreue Beschreibung ihrer täglichen Arbeit.
    Als er nun unter das Dach des weißen Zelts trat, war er auf das, was ihn dort erwartete, vorbereitet.
    »Da«, sagte Nick Lines mit einer kurzen Handbewegung, für den Fall, dass Mickey Zweifel daran hatte, wovon er sprach. »Da unten.«
    Mickey sah auf der Erde die Leiche eines Mannes liegen. Er war keinen sanften Tod gestorben. Sein Gesicht war aufgetrieben und dunkel verfärbt. Seine Augen waren weit aufgerissen, das Weiße durchsetzt mit roten Punkten – Blut aus geplatzten Kapillaren.
    »Zerebrale Hypoxie«, verkündete Nick Lines.
    »Soll heißen, er wurde erwürgt. Er ist erstickt.«
    Lines antwortete nicht. Er verschwendete nicht gern Zeit auf überflüssige Worte. Seine herablassende und distanzierte Art weckte in Mickey immer ein Gefühl der Minderwertigkeit. Er vermutete, dass es bloß eine Attitüde war, eine Maske, die der Mediziner anfangs aufgesetzt hatte, um dahinter seine allzu menschliche Reaktion auf die Schrecken seiner Arbeit zu verbergen. Doch das war die Krux von Masken, wenn man sie zu lange trug: Irgendwann verbargen sie ihren Träger nicht mehr, sondern wurden ein Teil von ihm.
    Nick Lines war in die Hocke gegangen und inspizierte den Leichnam.
    »Kontusion im Nackenbereich … massive Hämatome rechts und links der Trachea … Abschürfungen, Kratzer von Fingernägeln …« Er sah zu Mickey hoch. »Ich würde sagen, Sie suchen nach einem sehr starken Mann mit sehr großen Händen.«
    »Große Hände?«
    »Er wurde mit nur einer Hand erwürgt. Beachtliche Spannweite. Er hat beide Halsschlagadern abgedrückt. Wenn das Opfer nicht am Sauerstoffmangel gestorben ist, dann vermutlich an Herz-Kreislauf-Stillstand.« Er richtete sich auf. »Das heißt, unser Täter hat mindestens eine überdurchschnittlich große Hand. Obwohl meiner Erfahrung nach die meisten Menschen zwei gleich große Exemplare besitzen.«
    »Nicht zwangsläufig.« Wenn Mickey ausnahmsweise einmal nicht durch Lines’ Zurschaustellung seiner Belesenheit Minderwertigkeitsgefühle bekam, dann ärgerte er sich über dessen Humor.
    »Stimmt. Obwohl wir, denke ich, in diesem Fall davon ausgehen können.« Lines sah sich am Boden um. Die Spurensicherung hatte das Gebiet gründlich abgesucht. »Es hat ein Kampf stattgefunden. Zwei Beteiligte. Und den Verletzungen des Opfers nach zu urteilen, hatten beide Beteiligten zwei Arme. Obwohl …« Erneut ging er in die Hocke und deutete auf eine Stelle auf der Erde, wo mehrere Proben entnommen worden waren. »Blut. Wurde bereits zur Analyse ins Labor gebracht. Eigentlich eine Schande. Stickstoff, Kalzium und Phosphor – ausgezeichneter Dünger. Wäre er noch da, hätte man hier ganz wunderbaren Blumenkohl ziehen können.«
    Mickey sagte nichts. Was sollte man auf eine solche Bemerkung auch antworten? Stattdessen fragte er: »Todeszeitpunkt?«
    »Schwer zu sagen ohne eine vollständige Autopsie. Aber wenn man die Ausbreitung der Leichenflecke und die Witterungsbedingungen mit in Betracht zieht, würde ich sagen, er ist maximal

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