Jaeger
hintere Tür zu öffnen und ins Freie zu klettern. Dann sah sie ihn fragend an, als wisse sie nicht, was als Nächstes zu tun war.
»Na, los, geh einfach da hinten zwischen die Bäume«, sagte er. »Keine Angst, ich warte hier auf dich.«
Sie gehorchte und lief davon.
»Nein, wie goldig.«
Er drehte sich um. Die Frau war ausgestiegen und stand neben ihm. Sie bot einen furchterregenden Anblick. Ihre Schminke war verwischt, und ihr Gesicht sah jetzt aus wie ein Flickenteppich. An einigen Stellen war die Haut rot und voller Krater, an anderen unnatürlich glatt. Sie sah aus, als wäre sie aus verschiedenen Resten zusammengenäht worden, von denen keiner so richtig zum anderen passte. Narben zogen sich über ihren Hals bis hinunter zur Brust, wo sie von ihren Kleidern verdeckt wurden. Er sah, wie sie sich mit der Hand an den Kopf fasste und sich die Haare zurechtschob. Sie wirkten glänzend und künstlich. Dann begriff er. Sie trug eine Perücke.
»Sie fürchtet sich«, sagte er. »Sie ist total verängstigt. Das hier ist nicht der richtige Aufenthaltsort für kleine Kinder.«
Die Frau schnaubte verächtlich, ehe sie sich umsah. »Für keinen von uns.«
Aus dem Augenwinkel nahm Tyrell wahr, wie Josephina zurückkam. Sobald sie die Frau sah, blieb sie stehen. Sie traute sich nicht näher heran.
»Na, los, hol sie her«, befahl die Frau. »Ich will nicht, dass sie abhaut. Das fehlte uns gerade noch.«
Tyrell wandte sich dem Kind zu und bemühte sich um ein Lächeln. »Keine Angst, Josephina«, sagte er und streckte ihr die Hand hin. »Ich lass nicht zu, dass dir was geschieht. Solange ich bei dir bin, bist du in Sicherheit.«
Misstrauisch kam Josephina näher. Tyrell hielt ihr weiterhin die Hand entgegen. Schließlich trat sie auf ihn zu und ergriff seine Hand. Er hielt sie fest.
»Lady …«, sagte Josephina und blickte sich suchend um.
Tyrell warf erst der Frau, dann Josephina einen Blick zu. »Ich passe schon auf, dass die Lady dir nicht zu nahe kommt, mach dir keine Sorgen.«
Die Frau schüttelte den Kopf. »Du sollst ihr nicht ständig sagen, dass alles gut wird. Hör auf, sie anzulügen.«
Tyrell spürte wieder Wut in sich hochkommen. Diese Frau machte ihn andauernd wütend. »Ich lüge nicht. Ich mein’s ernst. Das ist die Wahrheit.« Er hielt Josephinas Hand ganz fest. »Ich lass nicht zu, dass irgendjemand ihr was tut.«
Die Frau ließ ein verächtliches Lachen hören. »Alles klar. Wie du meinst. Du hast doch gesehen, was beim Haus passiert ist. Du hast gesehen, was der Golem mit Graham gemacht hat.« Ihre Gedanken schweiften ab. »Graham, oh Gott, Graham …«
Tyrell jedoch interessierte sich für etwas ganz anderes. »Der Golem?«
Sie blickte ihn mit blutunterlaufenen, wilden Augen an. Nur langsam kehrte sie ins Hier und Jetzt zurück. Dann fertigte sie ihn mit einer kurzen Erklärung ab. »Ja, der Golem. So heißt er.«
»Aber wieso ist … Wieso hat er das getan? Wieso ist er hinter uns her? Wer ist er?«
Sie schüttelte den Kopf. »Fragen über Fragen … Er will mich aufhalten. Und dich. Er ist ein Killer. Mehr brauchst du nicht zu wissen.«
Tyrell konnte nicht glauben, was er da hörte. »Was ist mit …« Er wies auf Josephina.
»Und jeden, der ihm in die Quere kommt.«
Tyrell schwirrte der Kopf. Sein Schädel pochte, und das lag nicht nur an der ungemütlichen Nacht und dem grellen Sonnenschein. »Aber … warum denn? Wer hat ihn geschickt?«
Sie sah ihn an. Voller Mitleid. Tyrell wusste nicht, ob sie Mitleid mit ihm oder mit sich selbst hatte. »Geister«, sagte sie. »Geister aus der Vergangenheit. Sie jagen uns. Die ganze Zeit schon jagen sie uns …«
»Dann … dann gehen wir besser zur Polizei. Und sagen denen, was passiert ist.«
Ihre Augen verengten sich, ihr Mund wurde zu einem dünnen Strich. »Sei doch nicht bescheuert. Wir können schlecht zur Polizei gehen, oder? Kapierst du denn gar nichts? Wenn wir zur Polizei gehen, dann war’s das. Kein Geld, keine Zukunft.«
Tyrell schwieg.
»Oder bist du etwa scharf drauf, zurück in den Bau zu gehen? Ja? Das würde dann nämlich passieren. Wenn wir Glück haben.« Sie warf Josephina einen Blick zu, vor dem das kleine Mädchen zurückzuckte. »Und nicht auszudenken, was aus ihr werden würde, wenn du nicht mehr da bist, um sie zu beschützen …«
Am liebsten wäre Tyrell in Tränen ausgebrochen. In diesem Augenblick kam ihm das Gefängnis gar nicht so schlimm vor. Aber er würde Josephina nicht mit dieser Frau
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