Jäger der Dämmerung
Hilfe gefunden hatte, käme sie schnellstens zurück.
Sie drehte sich um und wollte losrennen.
»B-bleib … b-bei … m-mir …«
Beim Klang der Stimme erstarrte sie.
»B-bitte …«
Erin wachte keuchend auf.
»B-bleib … b-bei … m-mir …«
Die Stimme hallte ihr durch den Kopf, und, verdammt, Erin kannte sie.
»Erin?« Jude hörte sich schläfrig heiser an. »Süße, du musst schlecht geträumt haben.«
Wenn es das doch bloß wäre!
Aber so simpel konnte es natürlich nicht sein.
Todesträume. Das Einzige, was sie außer ihrem schwarzen Haar von ihrem Vater geerbt hatte.
Den ersten hatte sie mit zwölf Jahren. Ihre Mutter sagte ihr, es wäre nur ein Alptraum, nichts Besorgniserregendes.
Dann fand man die Leiche.
Die verfluchten Träume! Manchmal kamen sie unmittelbar vor dem Tod des Betroffenen zu ihr, verhöhnten sie und ließen sie glauben, sie könnte irgendetwas tun, irgendwie in das Schicksal eingreifen.
Andere Male kamen sie zu spät, Minuten oder Stunden nach dem Tod, als wollten sie Erin quälen.
Zu spät für alles außer Trauer um die Toten.
»B-bleib … b-bei … m-mir …«
Zu spät. Nein, sie musste es versuchen.
Erin sprang aus dem Bett, rannte zum Wandschrank und schnappte sich die erste Jogginghose, die sie sah.
»Äh, Erin?«
Sie hatte die Hose bereits übergestreift und war dabei, sich ein T-Shirt anzuziehen.
»Ist ein bisschen früh zum Joggen.«
Erin drehte sich um. »Ich muss weg.«
Jude blinzelte. Er sah noch sehr schlafzerzaust aus: das Haar verwuschelt, die Lider schwer, ein leichter Bartschatten auf seinen Wangen.
Sie schluckte. Gegen diesen Anblick als ersten nach dem Aufwachen habe ich nichts einzuwenden.
Sein Blick wurde strenger. »Wohin?« Es war zugleich Befehl und Frage.
Wie sollte sie es ihm erklären? Die lange Version? Die mit dem ganzen abgedrehten Mist aus ihrer Vergangenheit bis hin zur Quelle der visionären Gabe – ihrem Urgroßvater väterlicherseits, dem Choctaw-Schamanen?
Quatsch. Lieber die abgekürzte Variante. »Ich kann hellsehen, okay? Genau wie mein Vater.« Nicht ganz. »Hör zu, wenn ich nicht schnellstens zur Old Dobbins Bend komme, wird ein Mann sterben.« Er könnte schon gestorben sein.
Old Dobbins Bend. Als sie sich von dem Wagen wegdrehte, hatte sie die Straße erkannt. Erst letzte Woche war sie selbst die gewundenen Straßen entlanggefahren. Sie war mit einem Unifomierten unterwegs gewesen, um einen Zeugen zu befragen. Und diese langgezogene Kurve war unverwechselbar.
Jude blickte sie ungefähr fünf Sekunden lang an, ehe er nickte. »Na gut, dann auf zu Dobbins Bend.«
Ihr stand der Mund offen. Das war alles? Keine Fragen, einfach los? »Du glaubst mir?«
Er schwang die langen Beine über die Bettkante. »Hör mal, du sprichst mit einem Mann, der sich in einen Tiger verwandeln kann. Verdammt, ja, ich glaube dir.« Rasch stieg er in seine Jeans. Wann hatte er die nach oben geholt? »Und jetzt auf nach Dobbins Bend.«
Halt durch, Lee , flüsterte es in ihrem Kopf, denn die Stimme in ihrem Traum war Lee Givens‘ gewesen, von dem Anwalt, der sie für gewöhnlich auf die Palme brachte. Jetzt hingegen hatte sie Angst um ihn.
Klar, Lee konnte ein richtiger Vollidiot sein, doch deshalb verdiente er noch lange nicht, allein zu sterben.
Das tat niemand.
Siebtes Kapitel
Judes Hände umklammerten das Lenkrad. »Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«
Obwohl er ruhig sprach, verspannten sich Erins Schultern. »Es ist die richtige Stelle.«
Sie hatte diesen Straßenabschnitt deutlich gesehen – diese Bäume und die umgeknickte Kiefer.
Das war die Stelle.
»Wie lange hast du schon solche Träume?«
Erin zögerte. »Seit fast siebzehn Jahren, aber ich … ich habe sie nicht oft.« Hätte sie jede Nacht solche Visionen, würde sie durchdrehen. »Ich habe sie nur, wenn ich … wenn ich jemanden kenne …« Sie musste mit der betreffenden Person nicht vertraut sein, lediglich in irgendeiner Form mit ihr zu tun haben. Die Träume handelten ausschließlich von Leuten, die sie emotional berührt hatten, ob im positiven oder negativen Sinne.
Sobald sie emotional auf jemanden reagierte, rastete eine Verbindung zu demjenigen ein, oder wie immer man das nennen wollte. Und wenn diese Menschen sich dem Tode näherten, kamen Erins Träume.
Ihr Dad hatte ihr gesagt, es wäre eine Gabe, die einst die Götter seiner Familie verliehen und die seither von Generation zu Generation weitergegeben wurde.
Eine Gabe? Wohl eher ein
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