Jäger der Dämmerung
Fluch.
Ihre Träume hatten ihn jedenfalls nicht retten können.
»Also wenn du jemanden kennst und der …«
»Er muss im Sterben liegen.« Damit die Träume kamen, mussten sie den Todesgruß vernommen haben.
»Hmm.«
Sie stutzte, denn sie hatte keine Ahnung, was dieser Laut heißen sollte. Ich hab ihm doch gesagt, dass ich beschädigt bin. Und dieser Todestraumirrsinn ist bloß die Spitze des Eisbergs.
Sie spürte, dass er sie fragend, abwägend ansah.
Darüber konnte sie sich jetzt keine Gedanken machen, nicht wenn … »Halt!«
Er trat auf die Bremse.
Erin stieß die Tür auf und sprang aus dem Truck. Das hier war die Stelle in ihrer Vision, kein Zweifel. Ihr Körper summte vor Energie. Hier!
»Erin, warte!« Die Reifen knirschten, als Jude den Wagen an den Straßenrand lenkte. Dann knallte eine Autotür.
Erin schaute sich um. Es hatte die ganze Nacht geschüttet, so dass alle Spuren längst weggewaschen sein dürften.
»Scheiße!«
Jude entdeckte es als Erster. Kein Wunder, denn seine Wahrnehmung war sehr viel besser als ihre.
Drei Meter weiter, dann direkt über die Kante.
Gleichzeitig liefen sie los und direkt den Abhang hinunter.
Der Schlamm sog schlürfend und quatschend an ihren Turnschuhen, als wollte er sie verschlingen, aber Erin stürmte weiter durch den aufwabernden Dunst. Inzwischen konnte sie das Auto sehen.
Unmöglich kann er noch am Leben sein.
Der Wagen war zerbeult und eingedellt, als hätten ihn Riesenpranken zusammengedrückt und weggeworfen.
In der Ferne waren Sirenen zu hören. Hilfe kam. Es musste der Rettungswagen sein, den sie angerufen hatte, bevor sie das Haus verließen, und er näherte sich schnell.
Jude erreichte das Wrack kurz vor ihr. Das Fenster war zerborsten, und drinnen sah Erin den blutüberströmten Lee.
»Lee!« Er rührte sich nicht.
»Er atmet«, sagte Jude. »Aber ich weiß nicht, wie lange noch.« Er packte den Türrahmen und riss.
Die Tür brach heraus und fiel zu Boden.
Erin krabbelte in den Wagen. »Lee! Es ist alles okay. Hilfe ist unterwegs!« Er lebt noch. Endlich war sie rechtzeitig.
Lee zuckte und stöhnte.
»Alles ist okay«, wiederholte sie. Stimmen wehten über sie hinweg. Die Sanitäter. Sie kamen den Hang hinuntergelaufen und hatten ebenfalls Mühe mit dem tiefen Schlamm. Aber sie würde ihn aus dem Wagen holen und ihn retten. Sie konnte die Blutungen stoppen.
Denn sein Hemd war vollständig durchtränkt.
Das war zu viel Blut. Es rann ihm aus einer großen Platzwunde übers Gesicht.
Erin schluckte. »Es wird wieder, Lee«, log sie.
Er öffnete die Augen. »T-Tommy?«, murmelte er schwach.
»Was?« Erin strengte sich an, ruhig zu bleiben. »Lee, wer …«
»Ich liebe dich, S-Sohn …« Dann fielen ihm die Augen wieder zu und er atmete leise pfeifend aus.
»Lee? Lee!«
»Sein Herz schlägt nicht mehr«, raunte Jude, der zurücktrat und brüllte: »Bewegt eure Ärsche hierher, sofort! Der Mann braucht Hilfe!«
»Lee?«, flüsterte sie.
Dann legten sich Judes Arme um sie und zogen sie vom Wagen weg. Eine Frau in blauer Rettungssanitäterkleidung drängte sich an ihr vorbei, dicht gefolgt von zwei Männern.
Doch Lee bewegte sich nicht.
Er atmete nicht.
Zu spät.
Wieder einmal.
Das war die Geschichte ihres Lebens – und die von Lees Tod.
Erin beobachtete, wie sich die wirbelnden roten Lichter entfernten. Die Rettungsleute hatten Lees Herz wieder zum Schlagen gebracht, schätzten seine Überlebenschancen allerdings nicht sehr hoch ein.
»Woher in aller Welt wusstet ihr zwei überhaupt, dass er da unten war?«, fragte Antonio. Er war vor knapp zehn Minuten hier angekommen.
Erin schüttelte den Kopf. Der Krankenwagen verschwand hinter der Biegung. »Wir … sahen den Wagen, als wir hier vorbeikamen.« Sie hatte den Notruf vom Handy aus gewählt, folglich konnte Antonio ihr nicht beweisen, dass ihre Geschichte falsch war. Vorausgesetzt natürlich Jude deckte sie.
»Mhm«, machte Antonio. »Und ihr beide hattet beschlossen, um diese nachtschlafene Zeit ein bisschen hier draußen herumzufahren?«
»Ja, so in etwa«, murmelte Jude.
Danke! Er erzählte Antonio nichts von ihrem Traum. Sehr gut. Je weniger Leute es wussten, umso besser.
Wann werde ich sterben, Erin? Du weißt das doch, oder? Du kannst alles sehen.
Wann werde ich sterben? Als sie bei der Familie ihrer Mutter lebte, war sie eine wandelnde Freak-Show gewesen.
Die Stimmen aus ihrer Vergangenheit sollten dringend lernen, wann sie die Klappe zu halten
Weitere Kostenlose Bücher