Jäger der Nacht (German Edition)
rufen.
Er würde Geduld haben müssen, aber Vaughn war es gewohnt, ohne Unterbrechung einer Beute zu folgen, Stunden, Tage, Wochen.
10
Am nächsten Tag tat Faith etwas völlig Abwegiges. Anstatt die offensichtlich in Bezug auf Vaughn versagenden Schutzschilde wieder aufzubauen, dachte sie immer wieder daran, wie heiß sich seine Haut unter ihren Fingerspitzen angefühlt hatte, wie anders als ihre eigene. Noch in diesen Erinnerungen gefangen, fuhr sie mit den Fingern über ihren Oberarm. Zum ersten Mal in ihrem Leben ging es nicht um Funktionalität, sondern um Sinnlichkeit.
Der leise Ton eines Weckers. Sie war immer noch diszipliniert genug, um darüber nicht erstaunt zu sein, und stellte das Läuten ab. Ein Uhr nachmittags, sie sollte schon längst arbeiten.
Nach einer schnellen, aber gründlichen Überprüfung ihrer äußeren Schilde, die keinerlei Lücken aufwiesen, verließ sie das Schlafzimmer und setzte sich im Sessel zurecht. Das Summen, mit dem sich die Überwachungsfunktion einschaltete, sollte eigentlich zu leise für menschliche Ohren sein, aber Faith hatte es mit einem verborgenen Sinn immer wahrgenommen.
Ein paar Sekunden später ertönte die Stimme des M-Medialen, der die Sitzung überwachte, aus einem kleinen Kommunikationsgerät in der Armlehne. Dort gab es keinen Bildschirm, denn man hatte sie als Kind nicht durch ein anderes Gesicht ablenken wollen, und sie hatte das nie ändern lassen. Doch sie gab sich nicht der Illusion hin, man könne sie nicht sehen.
„Alle biologischen und neurologischen Funktionen bewegen sich in einem normalen Rahmen. Aber wir konnten eine Steigerung ihres geistigen Potenzials feststellen.“
Das war eine Überraschung. Als Kardinalmediale lag sie außerhalb der Skala, aber offensichtlich konnten die M-Medialen dennoch Änderungen in ihren Fähigkeiten wahrnehmen. „Eine Steigerung?“ Sie tat so, als interessiere sie diese Tatsache nur rein intellektuell. „Ist das ein Anzeichen für geistigen Verfall?“
„Im Gegenteil, es zeigt, dass Sie gesund sind. Diese Steigerung findet man manchmal bei Medialen mit großen Fähigkeiten – mehr als zehn Komma null können wir zwar nicht messen, aber wir können eine Veränderung in die eine oder andere Richtung feststellen“, erklärte der M-Mediale und zeigte damit, dass sogar Mediale gerne ihr Wissen zur Schau stellten. „Unsere theoretische Erklärung dafür ist, dass das Gehirn im Lauf der Jahre lernt, sich kürzere Wege zu suchen, und dadurch seine Kapazität erhöht.“
Dummes Gerede, dachte Faith. Ihre Kräfte wurden größer, weil die Konditionierung nachließ. Das war die einzig logische Schlussfolgerung. Ihre Visionskanäle waren weiter geworden, weil die von ihr empfangenen Informationen nicht mehr ausschließlich geschäftliche Dinge betrafen. Es war dabei uninteressant, worum es ging und ob es ihr gefiel. Einzig das Auftreten war Beweis genug für ihr bisher ungenutztes Potenzial, das man vorsätzlich unterdrückt hatte.
Sie fragte sich, was man noch zum Schweigen gebracht hatte. Wer wäre sie, wenn Silentium sie nicht geformt hätte, wenn man sie nicht nach genetischen Kriterien ausgewählt hätte, um ein stetiges Einkommen sicherzustellen? Wie wäre es, wenn sie keine Angst vor dem Wahnsinn zu haben brauchte, einfach normal wäre und genug Frau, um sich mit Vaughn einzulassen?
„Können wir anfangen?“, fragte der M-Mediale. „Oder möchten Sie sich die neusten Aufnahmen Ihres Gehirns ansehen?“
„Ich möchte zuerst ein wenig arbeiten. Zeigen Sie mir die Zufallsliste.“
Ein durchsichtiges Paneel fuhr aus dem Kopfteil des Sessels und schob sich von hinten über ihren Kopf. Einen halben Zentimeter vor ihren Augen hielt es an und trübte sich ein. Sekundenbruchteile später floss ein stetiger Strom von Informationen sehr schnell an ihr vorbei: die Liste der noch offenen Anfragen. Man konnte die Vorhersagen in gewisser Weise lenken, aber nicht vollständig kontrollieren, sehr zum Ärger der Geschäftsleute. Doch Faith war beinahe eine sichere Bank in dieser Hinsicht, deshalb war sie so wertvoll.
Sobald sie die notwendigen Angaben in ihr Gehirn eingespeist hatte, tauchten normalerweise innerhalb von ein oder zwei Wochen die entsprechenden Visionen auf. Das konnte überall geschehen – während eines Spaziergangs im Garten, im Schlaf oder während eines Termins beim M-Medialen. Doch im Laufe der Jahre hatte man festgestellt, dass sie die Visionen auch in einer überwachten Umgebung haben konnte,
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