Jäger der Nacht
sie sich geliebt hatten – und dachte bei sich: Was richtet dieser zweitklassige Hafenstraßenstricher mit mir an?
Kevins Arm lag ausgestreckt über seiner Brust – ein Ausdruck von Besitzergreifung selbst noch im Schlaf, und Bruce spürte sowohl das Gewicht als auch die Wärme. Er dachte daran, mit seinem Körper wegzurutschen, aber dann drückte er sich dichter an Kevin und genoß seine Gefangenschaft.
Seine Gedanken wanderten zurück zu der Nische in der Bar – George und Gerald auf der anderen Seite des Tisches, Kevin neben ihm. Er hatte gemerkt, wie sich George von Kevins Aussehen angezogen gefühlt hatte. Er hatte aber auch Geralds anwaltliche Mißbilligung gegenüber einem Fall von Kindesverführung gespürt. Er war sich dieser Mißbilligung erst recht bewußt geworden, als er Kevins schamlose Handgreiflichkeiten unter dem Tisch gespürt hatte.
Er grinste in Gedanken, aber dieses Grinsen verschwand schnell wieder. Gerald war kein Narr. Was Bruce in seinen Armen hielt, war Dynamit. Es war am Anfang so einfach gewesen, das schnelle Verschachern eines Körpers für Geld. Und mit dem Geld bezahlte man nicht nur die Verschwiegenheit, sondern auch dafür, daß der Junge ohne viel Federlesens auf Nimmerwiedersehen wieder verschwand, ohne irgendeine gefühlsmäßige Bindung. Sicher, die Regeln dieses Handels wurden manchmal gebrochen. Jerrys plötzliche Gewalttätigkeit hatte die Regeln gebrochen. Aber ein geschwollener Kiefer verheilte wieder. Kevins Bruch der Regeln – und Bruces Einwilligung dazu – war bei weitem gefahrvoller. So deutlich, wie er Kevins Arm auf seiner Brust spürte, so deutlich spürte er auch, daß sich die Fesseln enger schlossen.
Er konnte von draußen das Geräusch des Straßenverkehrs hören, das Ächzen und Stöhnen der Großstadt und gelegentlich das entfernte Aufheulen einer Sirene. Das Geäst der Bäume im hinteren Garten warf ruhelose Schatten an die Wände des Schlafzimmers, als ob die Bäume wie Zeugen draußen vor seinen Fenstern standen. Er fühlte sich irgendwie angegriffen von einer flüsternden Macht, die so gleichmütig feindlich gesinnt war wie ein Löwe auf der Lauer.
Kevin bewegte sich. Die Stimme war ganz nah an seinem Ohr und klang verschlafen träge. «Was’n los?»
«Nichts. Ich denke nur nach.»
Kevins Hand tatschte über sein Gesicht und glitt zurück auf die Brust. «Denk nicht zu heftig nach. Das tut deinem Kopf weh.» Bruce zog ihn enger an sich, seufzte und schlief ein.
Am nächsten Tag, früh am Nachmittag – Sonntag – blätterte Bruce die Sonntagszeitung durch, während Kevin, alle Viere von sich gestreckt, auf dem Bett lag und fernsah. Bruce grübelte gerade über das Bild einer wie selbstverständlichen Häuslichkeit nach, als das Telefon klingelte. Er hörte die förmliche, flötende Stimme von Miss Harkins, Charlottes Haushälterin. Sie war zurückhaltend, aber Bruce konnte ihre Aufgeregtheit aus einem Schwall von Halbsätzen heraushören. «Es ist nur, daß sie so bedrückt zu sein scheint... recht ungewöhnlich für sie... geht schon seit einigen Tagen so... und ihr Appetit... scheint sie nicht zu interessieren... sogar, als ich ihr gestern Kalbsklößchen gekocht habe, eins ihrer Lieblingsgerichte... und... und ich hab’ mich nur gefragt... wenn Sie diesen Nachmittag noch nichts vorhaben, ob... ob Sie vorbeikommen und sie besuchen könnten. Sie ist immer so heiter gestimmt, wenn sie mit Ihnen zusammen war...»
«Selbstverständlich, Miss Harkins... äh... heute Nachmittag?»
«Wenn Sie es möglich machen könnten...» Ihre Stimme klang fast
flehentlich. «Sie würde sich so darüber freuen. Das weiß ich.»
Bruce sah aus den Augenwinkeln zu Kevin rüber, der sich auf dem Bett lümmelte. Es waren nur noch ein paar Stunden verblieben, bis Kevin nach Hause gehen mußte, und Bruce tat es in der Seele weh bei dem Gedanken, diese Zeit noch zu verkürzen. Aber er hatte Charlotte gegenüber erwähnt, daß er vielleicht an diesem Nachmittag vorbeikommen würde, und nun schien es wichtiger als je zuvor zu sein.
Bruce reckte seine Schultern. «Ich bin spätestens in einer Stunde da.»
«Danke, Mr. Andrews. Vielen Dank.»
Als er den Hörer auflegte, sah ihn Kevin aufmerksam an. «Wer war das?»
«Meiner Tante Charlotte scheint es sehr schlechtzugehen.»
«Gehst du hin und besuchst sie?»
«Ja. Das sollte ich wohl.»
Kevins Augen waren niedergeschlagen. «Ich geh’, wenn du willst.»
Bruce zögerte. Ihm kam ein verrückter Gedanke, und
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