Jäger der Nacht
ersten Augenblick zuckte er zusammen, dann begann sich sein Körper im Rhythmus zu wiegen. «Hey, danach kann ich tanzen!»
«Tanzen?» sagte Bruce ahnungsvoll.
«Ja, Mr. Crimmins hat mir die jigs und flings beigebracht.» Charlotte lächelte. «Nun, dann tanze uns was vor.»
Kevin warf Bruce einen raschen Blick zu. Bruce zuckte die Achseln.
«In Ordnung», sagte Kevin.
Kevin erhob sich, ging in die Mitte des Wohnzimmers, wobei er erst Bruce und dann Charlotte mit einem verlegenen Ausdruck auf seinem Gesicht ansah. «Mr. Crimmins sagt, daß man dazu stets einen Kilt tragen sollte, aber ich habe keinen Kilt.»
Charlotte lachte. «Schon gut. Fang einfach an.»
Miss Harkins legte verwundert eine Hand auf ihren Mund.
Charlotte... lachte?
Kevin stellte sich in Positur – einen Fuß voran, die Zehenspitze auf den Boden gerichtet, ein Arm in einem Bogen über dem Kopf, den anderen hinter seinem Rücken. Für einen Moment stand er bewegungslos da und lauschte dem Takt der Musik. Bruce war erstaunt über die sichere Haltung des Körpers, über die ausgewogene Einhaltung des Gleichgewichts. Er konnte sich Kevins Gestalt fast als Kunstwerk vorstellen, ganz losgelöst von allem Gefühl und ohne einen Gedanken daran zu verlieren, was Kevin unter seinem T‐Shirt und seinen Jeans so alles zu bieten hatte.
Plötzlich kam Bewegung in Kevin. Seine Füße bewegten sich rasch zur Musik, sein Körper wirbelte herum. Seinen Oberkörper und seinen Kopf hielt er jedoch gerade und aufrecht; Brust und Kinn waren vorgestreckt, und ein stolzes Lächeln umspielte seine Lippen. Dann und wann fing Bruce einen aufblitzenden Blick ein und wurde gewahr, daß Kevin trotz aller Formvollendung des Tanzes mit ihm flirtete.
Die Musik hörte auf. Charlotte applaudierte. Bruce und Miss Harkins fielen ein. Kevin, der schwer atmete, war aufgeregt, riß sich jedoch zusammen und machte vor Charlotte eine tiefe Verbeugung. Bruce hoffte, daß dieser Augenblick ihr Leben um Monate verlängern möge.
Als sie zurückfuhren, wandte sich Bruce an Kevin. «Du warst großartig!»
«Danke.» Kevin war dicht an Bruce herangerückt und hatte eine Hand auf dessen Knie gelegt. «Tante Charlotte ist eine liebenswerte alte Dame. Können wir sie nicht mal wieder besuchen?»
«Ich hoffe doch.»
«Wie meinst du das?» Kevins Stimme klang ängstlich.
«Nun... mit ihrer Gesundheit scheint es nicht zum Besten zu stehen.»
«Oh», seufzte Kevin. «Sie ist alt. Sie kannte dich ja schon, als du noch ein Kind warst.»
«Na, das macht sie nicht gerade alt. Das war vor noch nicht einmal zwanzig Jahren.»
«Du mußt ja ‘ne ganz schöne Nummer gewesen sein, von wegen Kanus zum Kentern bringen und so.»
Bruce versuchte, die Dinge geradezurücken. «Nun hör mir mal genau zu. Was man unter anderem bei der Seenotrettung und bei den Lebensrettern beigebracht bekommt, ist, wie man ein Kanu aufrichtet, die Hälfte des Wassers herausbekommt und das Kanu zurück ans Ufer kriegt. Und damit man das Kanu aufrichten und das Wasser herausbekommen kann, muß man es erst zum Kentern bringen. Richtig?»
«Richtig.» Kevin klang zurückhaltend.
«Nun, Tante Charlotte hat das nie verstanden. Sie dachte, ich hab’ das Kanu einfach nur so zum Spaß zum Kentern gebracht. Aber es war eine... vorschriftsmäßige Übung in Seenotrettung.»
«Wie man noch mal davon kommt... irgendwie. Hä?»
«Hmmhmmm.»
«So wie man sich unter einer niedrigen Brücke duckt, hä?»
«Im Laufe der Jahre wirst du herausfinden, Kevin, daß man ziemlich oft Wasser aus dem Kanu herausbekommen und sich unter niedrigen Brücken ducken muß.»
«Die Erfahrung mache ich gerade.»
Diese Feststellung versetzte Bruce einen Stich. In der Erinnerung erschien ihm seine Jugend in den schönsten Farben gemalt, als eine Zeit überschwenglicher Sehnsüchte. Verzweiflung und Übermut hatte er gleichermaßen als ganz klar erlebte Gefühle in Erinnerung. Nichts war unmöglich gewesen, noch nicht einmal Selbstmord. Aber lediglich als Kampf ums Überleben, als Versuch, etwas Sicherheit und Vergnügen zu erhaschen, als eine einzige Anstrengung, die von der nächsten abgelöst wurde...? Bruce konnte in Kevins Gesicht ablesen, daß er innerlich älter war – das energische Kinn, die wachsamen Augen, das vorsichtige Lächeln. Seine Jugend schien vorbei zu sein, bevor sie überhaupt begonnen hatte.
Bruces Gedanken nahmen eine verräterische Wendung. Alles an diesem Sommer mit Charlotte war so sorglos und behütet gewesen; der
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