Jäger der Nacht
See hatte so blau geschimmert, die dichtstehenden Pinien um das Landhaus hatten so beschützend gewirkt, und Charlotte hatte sich als ein echter Kumpel erwiesen. Nach etwa einer Woche hatte er sich nach Gewittern gesehnt. Und wenn es keine Gewitter gegeben hatte, dann war er hinausgegangen und hatte das Kanu zum Kentern gebracht. Er hatte die Herausforderung mit allen Mitteln gesucht, das Ungewisse, jede noch so entfernte Möglichkeit einer Katastrophe.
Dann hatte er Julian kennengelernt. Nun mußte er das Kanu nicht mehr umwerfen. Nun gab es Herausforderungen genug, und in seiner jugendlichen Vorstellungswelt war sie so beeindruckend aufregend wie die aurora borealis, die manchmal den nördlichen Himmel erleuchtete.
«Kevin, hast du jemals die aurora borealis gesehen?» Kevin sah verwundert drein. «Was?»
«Das Nordlicht. Oben Richtung Kanada kann man es nachts am Himmel sehen. Es zieht sich über den ganzen Himmel, blau und grün, rot und orange schimmernd. Es ist wie eine überwältigende Symphonie in Farben... und dabei absolut still.»
«Muß wohl was Besonderes sein.»
«Weiß nicht. Als ich es zum ersten Mal bei Tante Charlottes Landhaus sah, glaubte ich, die ganze Welt würde in allen Farben des Regenbogens explodieren.»
Kevin schwieg für einen Moment. Dann: «Ich habe dieses Gefühl gehabt.»
«Oh. Wann?»
Wiederum Schweigen. Kevins Stimme war kaum zu vernehmen, als er sagte: «Wenn es mir kommt. Gemeinsam mit dir.»
Der nächtliche Himmel war in diesem Frühjahr pechschwarz, aber in seiner Erinnerung hegte Bruce das Bild strahlend‐mächtiger Farben, die den nördlichen Himmel zum Erglühen brachten. Wochentags schlenderte er in warmen Nächten durch die Straßen der Stadt und hatte das angenehme Gefühl, über den Dingen zu stehen. Er war nicht länger auf der Suche. Er konnte am Jefferson Square vorbeigehen und fühlte weder Erregung noch Sehnsucht, wenn er die schemenhaften Gestalten sah, die sich gegen das Straßenlicht abzeichneten und das Ritual ihrer anlockenden Bewegungen vollzogen. Er mußte lediglich bis Freitagnacht warten.
Er hielt seine gewohnten gesellschaftlichen Verpflichtungen aufrecht – die Abende mit Tante Charlotte, mit George und Gerald, ein gelegentliches Abendessen mit Amory und Bridge im Kaufmannsklub –, aber er vermied sorgsam Verabredungen fürs Wochenende und ermunterte niemanden, am Wochenende aufs Geratewohl vorbeizukommen. Die Wochenenden gehörten Kevin.
Für gewöhnlich klopfte es gegen sechs Uhr abends an der Wohnungstür. Kevin pflegte sich dann wie ein Flüchtling in Bruces Arme zu werfen und dort in Minuten des Schweigens zu verharren. Bruce konnte dann spüren, wie sich die Muskeln in Kevins Rücken entspannten und wie sein Atmen wieder gleichmäßiger wurde.
An Freitagabenden war das Bett der Ort, an dem sich alle Spannung löste. Aber die Sonnabende gaben sie sich dem Frühlingserwachen hin. In Bruces Wagen durchstreiften sie die Landschaft hinter den Ausläufern der Stadt, wanderten durch Wälder, vorbei an plätschernden Bächen, und aßen in Landgasthöfen. Bruce war etwas verwirrt darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit sie von Kellnerinnen und Tankstellenwärtern bedient wurden. Es sah eindeutig so aus, als sei Bruce ein geschiedener Vater, der seinen Sohn auf einen Ausflug mitnahm. Dieser Gedanke ließ sogar in aller Öffentlichkeit gewisse Bezeugungen der Zärtlichkeit zu. Kevin empfand diese Situation als ausgesprochen erheiternd und sprach Bruce in der Öffentlichkeit gelegentlich mit «Paps» an. Bruce zuckte dann jedes Mal etwas zusammen. Aber Kevins Blick war dabei immer verführerisch.
Die Wochenenden bildeten eine Insel, losgelöst vom Festland des übrigen Lebens; so erging es jedenfalls Bruce, und er wußte, daß das auch für Kevin galt. Und weil diese Zeiten so losgelöst von allem anderen waren und alle Gefühle derart in Anspruch nahmen, konnte Bruce auch alle Gedanken, Fragen und Zweifel darüber, wohin das alles führen sollte, beiseite schieben. Und auch seine Freunde waren über sein Verhältnis zu Kevin nicht ausreichend im Bilde, um es in Frage zu stellen. Bruce konnte sich einfach im berauschenden Spiegelbild von Kevins jugendlicher Schönheit sonnen und der Befriedigung seines eigenen Verlangens nachgeben.
An einem warmen Sonntagnachmittag im späten Mai, als Bruce und Kevin gerade von einem Streifzug durch den städtischen Zoo zurückgekehrt waren, klingelte es an der Tür. Bruces Gesicht verfinsterte
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