Jäger der Nacht
er sah Kevin lange abschätzend an. Kevin erwiderte den Blick, seine nußbraunen Augen waren groß und feucht geworden. «Ich muß sowieso zurück... irgendwann heut Abend.»
«Kevin...» Bruce preßte die Worte raus. «Wenn ich dich mitnehme, wirst du dich dann ganz tadellos betragen?»
«Ich kann mit dir kommen?»
«Versprich’s. Dein allerbestes Betragen.»
Kevin setzte sich auf dem Bett auf, und er sprach mit ungewohnter Würde. «Mr. und Mrs. Crimmins... meine Pflegeeltern... haben mir alles darüber... beigebracht.» Dann, fast ein Wispern: «Kann ich mit dir kommen?»
«Okay. Ziehen wir uns an.»
Bruce spürte für einen Moment Panik in sich aufsteigen, als sie zu Charlottes Wohnung fuhren und Kevin dicht neben ihm saß. Wie würde er Kevin erklären? Was zum Teufel war in ihn gefahren, einen Hafenstricher in die friedvolle Stille von Tante Charlottes Heim zu zerren? Der Gedanke allein war hirnverbrannt. Doch als er Kevin aus den Augenwinkeln neben sich beobachtete, schien es überhaupt nicht mehr hirnverbrannt zu sein. Charlotte hatte schon immer junge Leute gern gemocht, und Kevin strahlte in seiner zurückhaltenden Art Charme aus. Aber wie sollte er sagen, wer Kevin war?
Er hatte immer noch keine Antwort gefunden, als sie vor Charlottes Tür standen.
Doch als Bruce Kevin vorstellte, begrüßte ihn Charlotte wie einen lang vermißten Neffen, und Kevin wurde in aller Bescheidenheit rot vor Freude. In diesem Moment, als sie Kevins Hand in der ihren hielt und sie schüttelte, sah Bruce die Charlotte vor sich, die er von jenem Sommer in Maine in Erinnerung hatte – der Kopf etwas geneigt, das Licht in ihren Augen. Aber dann, als sie Kevins Hand losließ, schien sie das Alter wieder zu packen, und er sah eine kranke, alte Frau vor sich. Aber er bemerkte auch Kevin... wie er Charlotte ansah, mit einer Art von... was war es... Ehrfurcht? Charlotte saß auf der Couch, und Bruce setzte sich auf einem Beistuhl nahe zu ihr, als Miss Harkins Tee und Sandwiches servierte.
Für ein paar bange Sekunden fragte sich Bruce, wie Kevin wohl mit Tasse und Teller aus Meißner Porzellan zurechtkommen würde. Er kam zurecht, etwas ängstlich zwar, aber mit Haltung. Bruce ertappte ihn jedoch dabei, wie er den Inhalt des Sandwiches mit der Brunnenkresse mit einem schnellen Blick erforschte.
Aber was ihm am meisten an Kevin auffiel, waren dessen Augen.
Wenn sie nicht beobachtend auf Charlotte gerichtet waren, durchstreiften sie das Wohnzimmer Zentimeter für Zentimeter. Er hatte genau dasselbe gemacht, erinnerte sich Bruce, als er das erste Mal in seiner Wohnung war. Aber diesmal schien die Inspizierung noch genauer auszufallen, als ob der Raum mit seinen zugezogenen Vorhängen Aladins Höhle wäre – das Teeservice blitzte diamanten auf, die mächtigen Rahmen der Bilder glänzten gülden, und die gläsernen Lampenschirme leuchteten rubinrot und saphirblau.
«Weißt du, Kevin», sagte Charlotte gerade, «als Bruce so alt war wie du, verbrachte er mit mir einen wundervollen Sommer in Maine.»
«Oh.» Ein schwaches Grinsen huschte über Kevins Gesicht. «Wie war er denn damals?»
«Nun, er hat ein paarmal das Kanu zum Kentern gebracht... und er hat immer unheimlich viel gegessen.»
Kevins Grinsen wurde stärker. «War er so dünn wie ich?» Sie sah Bruce prüfend an. «Er hat seitdem etwas zugelegt.»
Bruce war von dem Verlauf der Unterhaltung nicht sehr angetan. Dennoch, die Erinnerung an den See in Maine, an dem Charlotte ihr Sommerhaus hatte, tat ihm gut. Und er sah an Charlottes Gesicht, während sie mit Kevin sprach, daß auch ihr diese Erinnerung Freude bereitete, die umso mehr lebendig wurde durch Kevins Gegenwart.
Miss Harkins war sichtlich erfreut darüber, daß Charlottes Lebensgeist wieder erwachte. Sie versorgte Kevin mit Brunnenkresse‐Sandwiches und fragte Bruce unauffällig, ob er seinen Tee «etwas kräftiger» haben möchte. Bruce nahm das Angebot mit einem Lächeln an. Miss Harkins umkreiste die Runde und fragte Charlotte, ob sie etwas Musik machen solle.
«Das wäre sehr nett.»
Bruce beobachtete, wie Miss Harkins sorgfältig eine Schallplatte auswählte und sie auf den Plattenteller legte. Er fragte sich, was sie wohl gewählt hatte – Bach oder Artie Shaw. Charlottes Musikgeschmack war sehr breit gefächert. Aber was dann die Stille der Wohnung durchbrach, war folk dance music, mit Geigen, Blasinstrumenten und einem Tambourin.
Der Eindruck, den das auf Kevin machte, war verblüffend. Im
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