Jäger der Schatten
sie sich besser gefühlt hätte, absolut nichts. Sie hatte eine lächerlich große Summe Geld zum Fenster hinausgeworfen, ihre Kreditkarten beim Einkaufen überzogen und einen Haufen Heilpraktiker und Therapeuten aufgesucht. Doch auch nach einem Monat hatte nichts geholfen. Ohne die vielen Versammlungen des Ältestenrats und die Telefonkonferenzen, die ihr erlaubten, vor ihrer Traurigkeit zu fliehen, würde sie wahrscheinlich verrückt werden vor Verzweiflung.
Auch wenn sie jetzt Vorsitzende des Ältestenrats war, musste sie noch ihr letztes Schuljahr beenden. Ihre Mutter Trinity ließ keine Ausreden gelten, wenn es um Mimis Abschluss ging, und so mussten weitere dringende Geschäfte bis nach ihrem Examen warten. Es war schon schlimm genug, dass Jack als vermisst galt und überall gesucht wurde, da würde Trinity nicht zulassen, dass Mimi auch noch die Schule vernachlässigte.
Mimi hatte sich mit dem Titel, den sie zunächst nur widerstrebend angenommen hatte, immer mehr angefreundet. Ihr war nämlich schnell bewusst geworden, dass sie ihn zu ihrem Vorteil nutzen konnte. Als unerschrockene Anführerin des Ältestenrats konnte sie alles tun, was sie wollte.
Es war die erste Woche im November. Sie war seit einem Monat Vorsitzende und hatte ihre Macht bis jetzt noch nicht für etwas eingesetzt, was ihr persönlich am Herzen la g – die Sorge um die Vampirgemeinschaft hatte für sie an erster Stelle gestanden. Doch heute war es endlich so weit. Heute würde sie ein kleines Gespräch mit Oliver Hazard-Perry führen. Sie hatte ihn aus dem Archiv holen lassen und ihre Sekretärin rief sie an, um ihr auszurichten, dass er soeben im Vorzimmer erschienen sei.
»Er soll reinkommen, Doris«, befahl Mimi und bereitete sich auf das Gespräch vor, das mit Sicherheit nicht einfach werden würde.
Oliver betrat das Büro. Sie kannte den Jungen kaum. In der Vergangenheit hatte sie ihm nur deshalb Aufmerksamkeit geschenkt, weil er Jacks Geliebter, ihrer Rivalin, nahegestanden hatte. Trotzdem fiel ihr auf, dass er sich verändert hatte. Sein Blick wirkte trüber als bei ihrer letzten Begegnung. Andererseits, wer hatte sich seit dem Hochzeitsdrama nicht verändert? Sie selbst hatte am darauffolgenden Tag in den Spiegel gesehen und war erschrocken über die hagere, gramerfüllte alte Jungfer gewesen, die ihr entgegengeblickt hatte. Die Tragödie hatte ihr sonnengebräuntes Cover-Girl-Aussehen ruiniert. Das musste sofort unterbunden werden.
»Du hast geläutet?«, fragte Oliver. Tief empfundener Schmerz stand in seinem Gesicht geschrieben, daher überraschte es sie, dass er noch immer zu Scherzen aufgelegt war.
Mimi warf ihr blondes Haar über die Schulter. »Das ist nicht die Art, wie ein Mensch seine Vorgesetzten anreden sollte.«
»Verzeiht mir, Madam.« Oliver grinste und machte es sich im Besuchersessel bequem. »Wie kann ich Ihnen zu Diensten sein?«
Mimi kam sofort zur Sache. »Du weißt, wo sie sind.« Gleich nachdem Jack die Stadt verlassen hatte, hatte sie ihm eine Armee aus Venatoren und Söldnern hinterhergeschickt, doch bis jetzt hatte es keiner von ihnen geschafft, ihn seiner gerechten Strafe zuzuführen. Nicht einmal in der Gedankenwelt hatte Jack Spuren hinterlassen.
» Sie? «, fragte Oliver und zog eine Augenbraue hoch.
»Mein Bruder und sein e …« Mimi konnte sich nicht überwinden, es auszusprechen. »Du weißt, wohin sie gegangen sind. Die Venatoren haben mir berichtet, dass du am Flughafen warst, bevor sie verschwunden sind.«
Oliver sagte entschieden: »Dem kann ich weder zustimmen noch widersprechen.«
»Sei nicht so unverschämt! Du musst mir sagen, wo sie sind, denn du arbeitest jetzt für mich. Oder wagst du es, dich gegen den Kodex zu stellen? Du weißt, dass die Strafe für ungehorsame Conduits zwanzig Jahre Isolation bedeutet«, schimpfte sie. Um ihre Worte zu unterstreichen, beugte sie sich über den Schreibtisch und entblößte die Fangzähne.
»Oh, wir bringen den Kodex ins Spiel.«
»Wenn du mich dazu zwings t …« Als Archivschreiber stand Oliver in der Hierarchie ganz unten. Er war wertlos, nichts weiter als ein unterbezahlter Angestellter. Sie hingegen war Mimi Force. Sie war die Vorsitzende! Sie war die Einzige, die die Gemeinschaft der Vampire im Moment noch zusammenhielt.
Oliver lächelte spöttisch. »Dann muss ich zu meiner Verteidigung auf das fünfte Gebot plädieren.«
»Das fünfte?« In Mimis Kopf begannen die Alarmglocken zu läuten, doch sie ignorierte sie. Sie war
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