Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
es nicht zu. Dieselbe Angst wie in Grezhausen, in Colmar. Die Angst davor, diesem Mann zu begegnen.
Aus der Wohnung war kein Geräusch zu hören.
»Na, worauf warten …«, begann der Hausmeister.
Rasch hob sie die freie Hand an die Lippen. Er schwieg.
Sie zog ihre Waffe, steckte den Schlüssel ins Türschloss, bekam ihn nur halb hinein. Sie versuchte es erneut, wieder erfolglos. Noch immer keine Geräusche auf der anderen Seite der Tür.
Vorsichtig fuhr sie mit der Handkante über das Türblatt. Wenn er hier gewesen wäre, hätte er sie längst bemerken müssen. Die Tür war aus dünnem Holz.
Er ist nicht hier, Bonì.
Die Angst ließ nur langsam nach.
»Haberle hat das Schloss ausgewechselt«, sagte sie.
»Da hat die Polizei Pech gehabt. Oder schießen Sie’s jetzt auf?«
»Ja.« Sie richtete die Waffe auf das Schloss.
»Eine Verrückte.«
»Nein, eine Halbfranzösin.«
»Na dann. Erklärt alles. Aber Ihr Deutsch ist ja nicht schlecht.«
Sie dachte, dass sie wegen der Hand Mitleid mit ihm haben sollte, doch sie hatte keine Lust auf Mitleid. »Ein ganz normaler unerfreulicher Tag in Oberrimsingen«, sagte sie, »dann trifft man eine Verrückte mit einem französischen Auto und einer Pistole. Das Leben ist nicht mehr das, was es mal war.«
Der Hausmeister zuckte die Achseln. »Wenigstens ist es ’ne deutsche Pistole.«
Sie wandte sich um. Er schaute sie an, und sie dachte, dass es ein freundlicherer Blick war als vorhin. Vielleicht hatte er die Angst bemerkt. »Gehen Sie wieder in Ihr Geschäft.«
»Jetzt, wo’s interessant wird?«
Sie steckte die Waffe ein. »So interessant auch wieder nicht.«
»Weiß ich, was Sie tun, wenn ich weg bin?«
»Die Tür auftreten.«
Er nickte. »Will ich mir nicht entgehen lassen.«
»Ich muss da rein, Herr …«
»Derfflinger.«
»Bonì.« Sie reichte ihm die linke Hand, er ergriff sie.
»Einen Franzosen geheiratet?«
»Einen Deutschen, und das war schlimm genug.«
»Und warum müssen Sie da rein, Madame Bonì?«
Sie sagte es ihm. Weil der Mann, dem diese Wohnung gehört hatte, ermordet worden war. Weil er am Sonntag in einem Kellerraum dieses Hauses mit zwei anderen Männern ein Mädchen vergewaltigt hatte.
Derfflinger legte die Stirn in Falten. »Der Haberle Dietmar?«
Sie nickte.
»Na, dann müssen Sie da wirklich rein.«
»Und wie komme ich rein?«
Er hob die Brauen. »Der Herr Derfflinger und die Frau Bonì werden es jetzt mal mit Gewalt versuchen.«
»Ist mir ohnehin am liebsten.«
Derfflinger lachte knarrend.
»Ist aber verboten, Herr Derfflinger.«
»Dann drehen Sie sich lieber mal weg.«
Sie wandte sich ab, hörte, wie sich Derfflinger gegen die Tür warf.
Beim zweiten Mal flog sie auf.
Ein schmaler, dunkler Flur lag vor ihnen. Zwei Dinge fielen ihr sofort auf. Zum einen der durchdringende Geruch nach Sagrotan und anderen Reinigungsmitteln. Zum anderen Emily – Fotos, wohin man sah und ging. Im Flur an den Wänden, im Bad in Rahmen auf den Ablageflächen, im Wohnzimmer und im Schlafzimmer in Postergröße. Überall Emily, Porträts, Ganzkörperfotos, beim Spielen, beim Malen, beim Ballett, beim Schwimmen, beim Schlafen, in der Badewanne, verhalten lachend, verhalten weinend, verhalten wütend, nachdenklich, mal war sie angezogen, mal nackt, mal war sie allein auf den Fotos, mal mit ihrem Vater, nie mit ihrer Mutter oder anderen und nie als Baby oder Kleinkind, sondern, wie es schon Alfons Hoffmann aufgefallen war, immer mit acht, neun, zehn Jahren.
Als wär er in sie verliebt gewesen oder so was, hatte Alfons Hoffmann gesagt. Die Fotos vermittelten noch einen anderen Eindruck: Du bist mein, du bist mein, du bist mein für immer.
»Und so was hat bei uns gewohnt«, sagte Derfflinger.
Sie standen im Wohnzimmer, das wie die anderen Räume vor Sauberkeit und Ordnung glänzte. Kein Fussel, kein Staubkorn, keine Schliere an den Fenstern, nirgendwo ein Gegenstand, der nicht mittig oder entlang irgendwelcher Kanten und nicht exakt dort stand oder lag, wo er hingehörte.
»Nichts anfassen, Herr Derfflinger.«
»Würde mir nicht im Traum einfallen.«
Sie kehrte in den Flur zurück, drückte die Tür zu. Der Schnapper rastete nicht ein, aber die Tür blieb im Rahmen stecken.
Sie ging wieder zu Derfflinger.
»Ist das das Mädchen?«
»Nein, das ist die Tochter.«
»Eine Tochter hatte der? Hab nie ein Kind gesehen hier.«
Sie erwiderte nichts. Vor ihren Augen hockte Dietmar Haberle auf den Knien, putzte, wischte, trocknete.
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