Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
Holzners Mutter. Katastrophen waren in ihr Leben gebrochen und hatten es für immer verändert. Drei Männer hatten beschlossen, ihren Trieben freien Lauf zu lassen, und die Welt einer Handvoll anderer Menschen zerstört. Sie würden weiterleben, aber anders. Die Erinnerung an das Geschehene, an das Grauen, der Verlust würden ihr Leben von jetzt an bestimmen. Die Kollegen, allen voran Bermann, konnten das verdrängen. Sie konnte das nicht sehr gut.
Ja, es war vorbei.
Nein, es würde nie vorbei sein.
Der Altrhein still und gemächlich, hin und wieder ein Glucksen, als würde er sich verschlucken, ein Platschen, als würden Fische springen. Sie hatte gehört, dass über sechzig Fischarten im Rhein beheimatet waren. Ob darunter springende Fische waren, wusste sie nicht. Aber die Vorstellung gefiel ihr. Draußen, an Land, geschahen schreckliche Verbrechen. Im Wasser sprangen die Fische.
Sie hatte Ben Liebermann angerufen. Er war nicht ans Telefon gegangen.
Sie saß am Ufer, nahe der Stelle, wo sie vorgestern Nachmittag Eddies Leiche gefunden hatten. Gegenüber, kaum wahrnehmbar in der Dunkelheit, lag die Insel, zu der Holzner mit Eddie früher geschwommen war. Zumindest manchmal hatte Holzner wohl versucht, ein guter Vater zu sein … Abgesehen von den Geräuschen des Rheins herrschte vollkommene Stille. Im Umkreis von mindestens zwei Kilometern befand sich vermutlich kein anderer Mensch. Vielleicht Bermann, falls er schon auf dem Weg war.
Und Nicolai.
Sie spürte seine Hände, hörte seine Stimme, sah seine Augen. Nicolai, den sie dicht an sich herangelassen hatte, um eine Chance gegen ihn zu haben. Jetzt war er da und würde noch eine Weile bleiben.
Sie griff erneut zum Telefon, hörte in ihrer Vorstellung den trägen Widerhall des Klingelns in einem Zimmer mit Wänden aus grauem Stein. Sieben, achtmal, dann wurde abgehoben, und das knurrige Französisch von Onkel Pierre erklang.
Ben Liebermann schlief.
»Dachte ich mir. Er ist den Absinth nicht gewöhnt.«
»Quatsch, Absinth. Die Sonne, die Luft, die Höhe, da fallen die boches in Tiefschlaf. Legen den Kopf auf den Tisch und wachen erst wieder auf, wenn ihnen die Vögel draufscheißen.«
Sie lächelte.
»Er wollte nicht weg«, sagte Onkel Pierre.
»Die Luft macht die Beine schwer.«
»Ja. Kommst du her?«
»In zwei, drei Stunden. Habt ihr ein Zimmer für uns?«
»Sind uns ausgegangen seit gestern. Ich stelle eine Liege in den Garten, neben den Tisch. Dann kannst du den Stuhl umkippen, und er fällt weich.«
»Du magst ihn nicht.«
»Deine Tante sagt, ich mag niemanden.«
»Nur die Vögel.«
Onkel Pierre kicherte. »Nur die Vögel.«
Dann war sie wieder allein, mit Nicolai, den Fischen, dem Rhein.
Vielleicht half er ja, dachte sie, der Rhein, zumindest gegen die Schmerzen. Sie stand auf, zog sich bis auf die Unterwäsche aus. Das Wasser war kühl vom Regen. Obwohl ihr die Strömung ein wenig Angst machte, watete sie hinein. Am Ufer entlang schwamm sie flussaufwärts. Schon wieder kämpfen, dachte sie. Doch gegen das Wasser zu kämpfen tat gut. Und sie musste ja kämpfen. Treibenlassen, das ging irgendwie nicht. Sich dem Widerstand unterwerfen. Wenn man sich treiben ließ, landete man am Ende irgendwo, wo man nicht sein wollte.
Nein, sie musste kämpfen, sich an den Widerständen abarbeiten. So war es nun einmal.
»Ich glaub’s einfach nicht«, sagte Bermann am Ufer.
Sie lachte.
Danksagung
Ich danke allen, die mich bei der Arbeit an diesem Roman unterstützt haben, vor allem Kriminalhauptkommissar Karl-Heinz Schmid von der Polizeidirektion Freiburg, außerdem meinem Agenten Ulrich Pöppl.
Das (leicht veränderte) Eingangszitat stammt aus Nathaniel Hawthornes »Das Zollhaus. Eine Art Einleitung« (in: Nathaniel Hawthorne: Der scharlachrote Buchstabe , Aufbau Verlag, Berlin 1998, S. 43).
Über Oliver Bottini
Oliver Bottini, in Nürnberg geboren, studierte in München Neuere deutsche Literatur, Italianistik und Markt- und Werbepsychologie. Er erhielt für seine beiden Kriminalromane »Mord im Zeichen des Zen« und »Im Sommer der Mörder« jeweils den Deutschen Krimi Preis. Beide Romane standen monatelang auf der KrimiWelt-Bestenliste und wurden in mehrere Sprachen übersetzt. 2007 wurde er für den Friedrich-Glauser-Preis in der Sparte Roman nominiert. Sein dritter Roman, »Im Auftrag der Väter«, stand 2007 auf der Shortlist des Münchener Tukan-Preises. Auch die beiden weiteren Romane, »Jäger in der Nacht« und »Das verborgene
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