Jäger in der Nacht: Kriminalroman (German Edition)
Ettinger sahen sie schweigend an, ihre Blicke misstrauisch und ein einziger Vorwurf. Es hätte nie passieren dürfen, wo waren Sie, als es passierte, wie ist es möglich, dass so etwas passiert? Im hübschen, gemütlichen, ach so niedlichen linken Freiburg? Warum sorgen Sie nicht dafür, dass so etwas nicht passieren kann? Warum arbeiten Sie mit Männern, die so etwas tun?
Sie verstand den Vorwurf. Wer hätte ihn nicht verstanden.
»Der Polizist«, sagte sie. »Wir wissen noch nicht, wer es ist. Helfen Sie mir, ihn zu identifizieren.«
»Sie haben eine recht genaue Beschreibung«, erwiderte Josepha Ettinger an Nadines Stelle. »Und Sie werden nicht von ihr erwarten, dass sie Ihnen seinen … Körper beschreibt.«
»Natürlich nicht …«
»Es gab nicht viel Licht«, flüsterte Nadine undeutlich und mit Mühe. »Am Anfang war es hell, dann gab es nicht mehr viel Licht.«
»Sie dürfen das nicht tun«, sagte Claus Rohmueller mit brüchiger Stimme, an Louise gewandt. »Sie erträgt es nicht.« Sein Blick sagte: Ich ertrage es nicht.
Sie wandte sich wieder Nadine zu.
Die werden Sie jetzt in Ruhe lassen …
Noch lange nicht, dachte sie. Sie werden wiederkommen, wieder und wieder, in Nadines Träumen, ihren Gedanken, ihren Gefühlen. Sie fragte sich, ob Nadine dieses Leben durchstehen würde. Ob sie den Prozess durchstehen würde. Ob zu den Medikamenten in dem Spiegelschrank in ihrer Wohnung weitere kommen würden.
Sie hoffte, dass irgendwo in ihr noch ein Funken Lebenswille glomm. Dass die drei Männer nicht auch ihren Lebenswillen zerstört hatten.
»Es war nicht dunkel«, sagte Nadine. »Aber es war auch nicht hell.«
Louise nickte. »Seine Stimme. Wie klang seine Stimme?«
»Schön«, sagte Nadine und begann zu weinen. »Ganz, ganz schön.«
23
Kurz darauf fuhr sie los, doch im Berufsverkehr auf der langen Ausfallstraße aus Colmar kam sie nur langsam voran. Im Rückspiegel für Momente die Vogesen, auf einer Brücke im Osten der Kaiserstuhl, wie schön, dachte sie, Colmar und das Elsass, Freiburg und der Breisgau waren, und was für Menschen sie beherbergten. Menschen wie Haberle, die beiden anderen Männer, die sich morgens um fünf in Freiburg ein Mädchen holten. Immer wieder sah sie Nadines verängstigtes, geschundenes Gesicht vor sich, Claus Rohmuellers verzweifelten Blick, hörte die unausgesprochenen Vorwürfe. So war es eben, dachte sie, so war diese Gesellschaft auch hier, nach außen schön und freundlich und friedlich, in sich verfault, ein Sumpf aus Trieben, Machtgelüsten, Hemmungslosigkeit, die sich überall auf sanktionierte Weise Bahn brachen und manchmal auf grauenerregende.
Sich hinter einer schönen Stimme verbargen.
Die Stimme. Sie ahnte jetzt, wer der Polizist war.
Nein. Sie wusste es.
Dann das Breisacher Münster, das sich wenige Kilometer vor ihr dunkel auf der anderen Rheinseite erhob, und sie dachte plötzlich, dass sie Ben Liebermann dieses schöne Land zwischen Schwarzwald und Vogesen gern einmal gezeigt hätte. So sollte es doch sein, das andere Leben, mit einem Menschen wie ihm die schönen Dinge ansehen, ohne dahinter immer auch die hässliche Kehrseite zu erkennen. Ihr fiel ein, dass Ben Liebermann ein ums andere Mal von Krieg, Politik und Zerstörung gesprochen hatte, wenn er ihr in Kroatien eine Stadt, eine Landschaft gezeigt hatte. Vielleicht hatten sie das gemeinsam. Sahen im Schönen immer auch die Fratze.
Vielleicht hatte er auch nur vor ihr begriffen, dass sie ein Teil dieser Fratze waren, weil sie ein Teil dieser Gesellschaft waren.
Zwanzig Minuten später rief Alfons Hoffmann an.
»Wo bist du?«
»Kurz vor Freiburg.«
»Haberle hatte eine Wohnung in Oberrimsingen.«
Alfons Hoffmann hatte herumtelefoniert, war eher zufällig darauf gestoßen. Eine Grundsteuerabbuchung von einem Konto, ein Grundbucheintrag, Erbe des vor vier Jahren verstorbenen Vaters. Louise dachte an das Gespräch mit Brigitte Haberle, die gesagt hatte, ihr Mann habe die Wohnung verkauft.
Ein Doppelleben, jahrelang.
»Bist du sicher?«
»Bin ich.«
Oberrimsingen, vermute ich, hatte Josepha Ettinger gesagt.
Von Oberrimsingen nach Grezhausen waren es zwei, drei Kilometer. Eine schmale, auf beiden Seiten von Maisfeldern eingerahmte Straße, die die Landesstraße kreuzte, wenn sie sich richtig erinnerte. Nadine musste sich durch die Felder geschleppt, die Landesstraße überquert haben. Noch ein Maisfeld, dann ein paar Häuser, die Möhlin, zweihundert Meter weiter der brachliegende
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