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Jäger und Gejagte

Jäger und Gejagte

Titel: Jäger und Gejagte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nyx Smith
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nur etwas an ihrem eigenen Überleben.
    »Du hast mir alles genommen, das mir etwas bedeutet hat.«
    Geld, Macht, sexuelle Befriedigung - darum dreht sich alles im Reich der Metamenschen. Die Vorstellung, daß irgendeine Orkfrau über den Verlust eines ihrer Jungen zu Tode betrübt sein könnte, ist ganz offensichtlich albern.
    Sie erinnert sich an eine ihrer allerersten Erfahrungen mit Zweibeinern. Menschen kamen von Tsitsihar den Nunkiang-Fluß hinauf und töteten ihren Vater. Warum taten sie das? Ihre Mutter erklärte ihr, daß Menschen aus denselben Gründen töten wie alle anderen Tiere auch - um zu essen, um zu herrschen, um zu überle ben. Töten gehört zum Lauf der Welt, aber Zweibeiner machen es persönlich. Manchmal töten sie auch einfach nur aus Spaß, was gleichbedeutend ist mit grundlos.
    Ihre Mutter hat ihr erklärt, daß am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts die halbintelligenten Wesen, die ihre Vorfahren sind, von der Ausrottung bedroht waren. Hätte nicht das Erwachen und die Geburt von Wesen wie ihrer Mutter und sie selbst stattgefunden - also Wesen, die tatsächlich denken, die den Zweibeiner- Jägern entkommen und sie sogar töten können -, würde es keine Tiger und auch keine Wertiger geben. Keine Tikki. Ihre ganze Art wäre verschwunden. Tot. Ausgerottet.
    Das hat Tikki erschreckt und gleichzeitig mit Wut erfüllt. Es hat einen bleibenden Eindruck hinterlassen. Es hat sie davon überzeugt, daß Zweibeiner als Beute betrachtet werden sollten. Als rivalisierende Raubtiere. Als Feinde ihrer Art und von ihr selbst. Als nur auf die Chance lauernd, sie zu töten. Wahrscheinlich hat sie deshalb nie Schwierigkeiten gehabt, sie zu töten.
    Es sind unbarmherzige Mörder. Jeder einzelne von ihnen.
    Jetzt fragt sie sich, ob das stimmt.
    Wenn ein Ork über den Verlust seines Sohnes Kummer und Trauer empfinden kann, so wie sie Kummer und Trauer über den Verlust ihres Vaters empfunden hat... So wie sie ihr Junges vermißt...
    Es will ihr fast unmöglich erscheinen.

66
     
    Auf der Uhr an der Wand ist es nach acht Uhr, als Amy ihr Bürovorzimmer betritt und sofort erkennt, daß sie gerade rechtzeitig kommt, um einzugreifen. Ein Mann in schwarzem Anzug und mit KFK-Ausweis knurrt irgend etwas darüber, daß er nicht den ganzen Tag Zeit hat. Amys persönliche Assistentin Laurena sieht hierhin und dorthin, wobei sie sich die Augen zuerst mit der einen und dann mit der anderen Hand abwischt, um sich dann vorzubeugen und abrupt beide Hände vor das Gesicht zu schlagen.
    Amy unterdrückt einen jähen Anflug von Wut. Sie sieht den Mann an, der wahrscheinlich zum Revisionsstab gehört, und sagt kurz angebunden: »Danke, das ist alles.«
    Der Mann runzelt die Stirn und verbeugt sich abrupt. »Entschuldigen Sie...«
    »Machen Sie, daß Sie rauskommen.«
    Das Gesicht des Mannes läuft rot an, und er versteift sich, doch dann verbeugt er sich noch einmal, wendet sich ab und geht. Amy zieht ein Papiertaschentuch aus dem pastellfarbenen Päckchen auf dem Schreibtisch, zieht sanft Laurenas Hände nach unten und tupft ihr vorsichtig die Augen trocken. Ihr Gesicht ist gerötet und glänzt, sie selbst atmet unregelmäßig und ringt mit der Fassung. »Er wollte... wollte nur das Materialhandbuch«, sagt sie mit gequälter Stimme. »Ich weiß nicht, warum... warum er so gemein wurde. Ich... ich nehme an, jemand hat es sich ausgeborgt.«
    »Das gehört nicht zu Ihrem Job«, sagt Amy leise. »Es gehört zu meinem Job. Wenn die Revisoren etwas wollen, schicken Sie sie zu mir.«
    »Aber ich... ich bin doch Ihre A-Assistentin.«
    »Sie sind meine Assistentin. Sie arbeiten für mich.
     
    Und für niemand anders.« Amy streicht Laurenas goldenes Haar zurück und lächelt ein wenig. »Gehen Sie in den Waschraum und machen Sie sich zurecht.«
    Laurena lächelt, offensichtlich verlegen, und greift nach ihrer Handtasche. Amy geht in ihr Büro. Durch die Fensterwand im hinteren Teil sieht die Sonne wie ein schmutziggelber Ball aus, der sich über den Horizont erhebt und die Plaza unter ihr ebenso wie den Harlem River, Manhattan, den Hudson und die entfernten Strände New Jerseys in morgendlichen Schatten hüllt. Eines weiß Amy ganz genau. Der Tag mag gerade erst begonnen haben, aber die Schatten werden länger.
    Ihr Schreibtischtelekom klingelt. Sie drückt die Taste, um den Anruf entgegenzunehmen. Joey Chang, der Finanzdirektor, erscheint auf dem Schirm. Sein Haar kommt ihr grauer vor als üblich. »Wir sind gerade dabei, einen Ochsen

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