Jäger und Gejagte
Stadt: Das Delikatessengeschäft auf der Second Avenue. Touristen suchen es in der Gegend der Turtle Bay, aber tatsächlich befindet es sich direkt hier im Herzen der Stadt am Duffy Square. Harman geht allein hinein und holt ihnen heiße Pastrami-Sandwiches, eine Karaffe Wein und zwei Tassen Kaffee. Sie essen im Wagen, der direkt am Randstein geparkt ist, zur Begleitung klassischer Melodien aus Harmans reichhaltiger Stereo-Kollektion.
»Picknick in der Stadtmitte«, sagt Harman.
»Es ist wunderbar.«
Gibt es einen besseren Platz, um zu essen, als so nah am Theaterviertel, wo sich die Dramen der Autoren bemühen, das Drama des Lebens zu erhellen? Und es ist durchaus sicher. Wagen der NYPD Inc. fahren ständig vorbei. Zwei uniformierte Beamte von Winter Systems stehen direkt vor dem Delikatessengeschäft und haben ein wachsames Auge auf alles.
»Es muß an deinen Revisoren aus Tokio liegen«, sagt Harman. »Mischen sie sich in alles ein?«
Amy nickt. Sie nimmt an, daß es jetzt wohl Zeit für die Unterhaltung ist, die Harman erwähnt hat. Sie will ihn nicht mit ihren Arbeitsproblemen belasten, aber sie will ihn auch nicht ausschließen. Sie ringt mit diesem kleinen Dilemma und kommt schließlich zu dem Schluß, daß es wichtig ist, daß er es erfährt. Er ist ihr mittlerweile ebenso wichtig wie ihre Karriere, vielleicht sogar noch wichtiger. Sie sollte keine Geheimnisse vor ihm haben. Doch wo soll sie beginnen? »Du weißt, was für ein Chaos bei HC geherrscht hat, als ich dort angefangen habe. Ein paar Abteilungen brauchten Monate, nur um ein neues Softwarepaket zu bestellen.«
Harman nickt und lächelt. »Du hast verdammt gute Arbeit geleistet, das in Ordnung zu bringen.«
»Ich habe getan, was ich konnte«, stimmt Amy zu, »aber ich bin ganz allein. Die Priorität des Einkaufs war offensichtlich. Unglücklicherweise gibt es noch eine Menge auf der anderen Seite der Gleichung zu tun, und genau die nehmen die Revisoren gerade unter die Lupe.«
»Den Verbrauch der Ressourcen?«
»Verbrauchskontrolle...«, nickt Amy, die sich an ihre ›Unterhaltung‹ mit Kurushima Jussai erinnert. »Für irgendein metawissenschaftliches Experiment haben wir den Niednagel eines Drachen gekauft. Haben wir ihn je benutzt? Tja, er hat uns eine halbe Million Nuyen gekostet. Warum können Sie die Frage nicht beantworten?«
»Ich wußte gar nicht, daß Drachen Niednägel bekommen können.«
»Ich habe nur Spaß gemacht.«
»Ich auch.« Harmans entschuldigendes Lächeln wird warm und mitfühlend. »Es tut mir leid. Ich will mich nicht über deine Situation lustig machen. Es ist nur irgendwie überraschend... eine halbe Million Nuyen. Manchmal kommt es mir so vor, als würden meine Leute in einer Woche so viel für Getränke ausgeben.«
»Ich weiß.« Amy beobachtet das Spiel der Gefühle in Harmans Gesicht, dann beugt sie sich vor und küßt ihn auf die Wange. »Ich weiß ganz genau, was du meinst.«
Und tatsächlich ist Harmans Reaktion völlig normal. Er ist Verkaufsdirektor bei Mitsuhama Systems Engineering, einem Zweig von Mitsuhama UCAS. Mitsuhama ist einer der mächtigsten Megakonzerne der Welt.
Hurley-Coopers Muttergesellschaft, KFK International, ist auch ziemlich groß, aber HC mit Harmans MSE zu vergleichen, wäre einfach lächerlich. Harmans Verkaufsabteilung umspannt den ganzen Globus und verdient Milliarden. Hurley-Cooper Laboratories leistet wichtige Arbeit und erwirtschaftet einen anständigen Profit, aber in Nuyen ausgedrückt, sind es kleine Fische.
»Habt ihr keinen Direktor für Ressourcen?« fragt Harman.
»Doch, Bob Ganz«, erwidert Amy. »Er ist der Direktor für Ressourcen-Management. Das ist ein weiteres Problem.«
»Erzähl.«
Vor einem Jahr hätte sie Harman verwundert angesehen und sich gefragt, warum der Verkaufsdirektor von Mitsuhama Systems Engineering so interessiert an ihren Problemen ist. Diese Zweifel sind mittlerweile verflogen. Harmans Stimme ist sanft, seine Miene drückt Anteilnahme aus. Er würde keine Sekunde mit einer kleinen Firma wie Hurley-Cooper verschwenden, aber es ist ihre kleine Firma, und das macht einen großen Unterschied. Sie ist sicher, daß er nichts, was sie ihm erzählt, ausplaudern wird.
»Bob ist nicht sehr phantasievoll.«
»Das ist nicht gut.«
»Und er benutzt BTLs.«
Sie wissen beide, was das bedeutet. Durch das Wunder des virtuellen Erlebens vermitteln BTLs Erfahrungen, die Better Than Life, besser als das Leben, sind. Es handelt sich um erlebnisdichte
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