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Jäger und Gejagte

Jäger und Gejagte

Titel: Jäger und Gejagte
Autoren: Nyx Smith
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Kerzenlicht. Bandit geht auf, daß er nicht mehr allein ist.
    Die Gestalt im hinteren Teil seines Medizinzelts sieht wie ein alter Mann aus. Bandit nennt ihn Alter Mann. Dieser Name erscheint ihm angemessen. Er hat einmal gedacht, Alter Mann sehe irgendwie asiatisch aus, aber er hat sich geirrt. Alter Mann sieht amerindianisch aus. Sein dünnes graues Haar fällt ihm über die Schultern. Er trägt Kleidung aus ockerfarbenem und dunkelbrau nem Leder und Ketten und Perlen, wie sie die eingeborenen Völker lange vor dem Erwachen trugen. Bandit hat einmal gedacht, Alter Mann könnte Waschbär mit einer menschlichen Maske oder irgendeine Art von Geistführer sein. Auch darin hat er sich geirrt.
    »Ich nehme an, du willst etwas«, sagt Alter Mann. »Du hast mich gerufen.«
    Bandit nickt. Er erwägt, sich zu Alter Mann umzudrehen, entscheidet sich aber dagegen. Er sitzt der Vorderseite seines Medizinzelts gegenüber, dem Brennpunkt seiner Magie. Das ist so, wie es sein sollte. Das ist die Art des Schamanen. »Ich mache mir Sorgen.«
    »Das habe ich mir schon gedacht. Was für Sorgen?«
    Bandit holt tief Luft und sagt: »Der Weg des Schamanen ist manchmal schwer zu finden. Ich habe begonnen, indem ich Magie gelernt und die Leute ignoriert habe. Ich habe das Unmögliche versucht. Der Schamane muß eins mit der Natur sein. Die Leute sind ein Teil der Natur und dürfen nicht ignoriert werden. Ich versuchte die Natur kennenzulernen, aber nicht die ganze Natur, also war meine Magie fehlerhaft, und ich bin nicht weitergekommen.«
    »Das weiß ich alles«, sagt Alter Mann. »Komm zur Sache.«
    »Jetzt versuche ich alles über die Leute zu lernen. Ich habe mich den Leuten geöffnet, glaube ich. Ich lerne wieder. Und entdecke ganz neue Dinge.«
    »Und?« Alter Mann klingt ungeduldig.
    »Meine Gedanken beunruhigen mich.«
    »Das ist nichts Neues.«
    »Diese Gedanken sind neu. Ich glaube, Shell hat sie hervorgerufen. Sie bringt mich zum Nachdenken. Über Leute. Es reicht nicht, nur die Leute kennenzulernen, denen man auf der Straße begegnet. Das ist nur der Anfang. Leute sind Individuen. Sie haben verschiedene Persönlichkeiten und Stimmungen und...«
    »Ja?«
     
    »Sie haben verschiedene Beziehungen.«
    »Niemand würde das bestreiten.«
    »Manche Leute sind Mutter oder Vater. Manche sind nur Freunde. Manche sind gute Freunde und fast so wichtig wie Brüder oder Schwestern.«
    Längere Zeit herrscht Schweigen, dann sagt Alter Mann: »Ich weiß nicht, warum du mir das erzählst. Ich bin nur ein alter Mann. Ich habe keine Antworten. Und wenn doch, hätte ich sie wahrscheinlich längst vergessen. Und was würden sie dir nützen? Du bist ein Schamane. Du weißt einiges über die Welt. Du mußt entscheiden. Du mußt eigene Antworten finden.«
    »Das weiß ich.«
    »Einmal hörte ich einen Mann zu einem anderen sagen: Was soll das alles? Der andere Mann versuchte es ihm immer wieder zu erklären, aber er konnte ihm einfach nicht seine Ansicht vermitteln. Er verstand die Frage nicht. Das konnte er auch gar nicht. Der Mann, der die Frage gestellt hatte, war der einzige, der wirklich wußte, was sie bedeutete. Wie hätten ihm andere seine Frage beantworten können, wenn sie sie doch nicht einmal verstanden?«
    »Du verstehst nicht, wovon ich rede?«
    »Verstehst du es?«
    »Ich glaube schon.«
    »Dann laß deine Erklärung hören.«
    »Ich bin nicht sicher, ob ich das kann.«
    »Das ist keine Antwort. Du bist klüger. Du bist ein Schamane. Du hast sämtliche Feuerproben bestanden. Du hättest die Macht des Initiaten nicht erlangt, wenn du nicht in der Lage wärst, dich dem Schmerz zu stellen. Du wirst nicht weiterkommen, wenn du dich dem Schmerz nicht stellen kannst. Das weißt du. Schmerz ist ein Teil der Welt, und du mußt dich den schlimmsten Schmerzen stellen. Deshalb ist das Einstimmen auf die Leute so wichtig. Der Schmerz von Mutter Erde ist groß, aber was ist das im Vergleich zum Schmerz der Leute und zum Schmerz in dir selbst? Was gibt es für einen größeren Schmerz als den, welchen du im Augenblick empfindest?«
    »Du hast recht.«
    Alter Mann hat recht, sagt sich Bandit noch einmal. Der Schmerz, den er jetzt empfindet, ist schlimmer als alles andere. Es ist eine Mischung aus Angst und Schuldbewußtsein und einem Kummer, der so intensiv, so rein und so konzentriert ist, daß er die Tränen nicht unterdrücken kann. Kaum atmen kann, ohne daß sich seine Kehle zuschnürt. »Ich habe so viele Leute ignoriert... so viel Zeit nur mit
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