Jäger
Seiten um und betrachtete die Fotos aus
zusammengekniffenen Augen.
Ich stellte mir die Golochowa in der speziellen Anstalt ihres
Mannes vor, in der sie ihren Wahnsinn ausgelebt hatte. Dort hatte sie
jede Menge Zeit gehabt und diese Alben als ihre besondere Aufgabe
betrachtet.
Ein paar Minuten später stieß Ben einen Pfiff aus.
»Volltreffer«, sagte er.
Er hielt mir die Seite zur Begutachtung hin. Auf einem
Schwarzweißfoto mit Zacken – nach dem Rand und der
Ausleuchtung zu urteilen, handelte es sich offenbar um eine private
Aufnahme – war Stalin im mittleren Alter mit würdevoll
ergrauter Haarpracht zu sehen. Es war eindeutig Stalin. Er hatte
einen Arm um die Schulter eines Arztes in weißem Laborkittel
gelegt, der einen Kneifer auf der Nase balancierte. Stalin grinste
breit in die Kamera, die glorreiche Zukunft fest im Blick. Das Datum
unter dem Foto, in Schönschrift festgehalten, lautete 4. Juni
1938.
Er sah dem Mann im Tank tatsächlich ähnlich.
»Zu diesem Zeitpunkt hatte er bereits Millionen
umgebracht«, bemerkte Ben. In seiner Stimme schwang diese
merkwürdige Faszination mit, die männliche Historiker oft
überkommt, wenn sie von unfassbaren Gräueltaten sprechen.
»Er hat die gesamte militärische Führung der
Sowjetunion ausgelöscht. In Kürze wird er einen Pakt mit
Hitler schließen, um Zeit zu gewinnen, doch bald darauf wird
Hitler Russland überfallen. In den nächsten zehn Jahren
werden in Europa fast dreißig Millionen Menschen sterben –
manche reden auch von fünfzig Millionen oder mehr. Glauben Sie,
er hat sich damals schon Golochows Behandlungen unterzogen?«
Ich hatte keine Antwort darauf. Ich starrte nur auf das Foto und
prägte mir das Gesicht des zweiten Mannes ein, das von sanften
Augen und einer Hakennase beherrscht wurde. Das Gesicht wirkte
sympathisch und recht unauffällig.
Zwei Männer mittleren Alters, die offenbar dick befreundet
waren.
•
An den größten Teil der Fahrt nach Florida kann ich
mich nur noch verschwommen erinnern. Ich weiß auch nicht, was
aus dem stählernen Gulag geworden ist. Wahrscheinlich werde ich
auch nie erfahren, ob Ben sich alles nur eingebildet hat.
Aber der Mann in dem Stahltank hatte gelitten, falls er noch einen
Rest von Bewusstsein besaß. Wenn das Schild ein Anhaltspunkt
war, dann hatte er schon mehr als fünfzig Jahre gelitten.
Kapitel 35
17. August – Port Canaveral, Florida
Wir konnten die Lemuria vom Balkon unserer Hotelsuite aus
erkennen. Sie war schwer zu übersehen: Vier glänzende
Hochhaustürme ragten zwischen Bug und Heck des weißen,
mehr als sechshundert Meter langen Ozeanriesen empor. Während
der letzten zehn Minuten hatte das Schiff im Tiefwasserbecken des
Hafens unter Einsatz der Bug- und Heckschrauben gewendet und war
jetzt zum Auslaufen bereit. Durch ein kleines Fernglas, das ich auf
die Querleiste des Fensters stützte, konnte ich einen Teil der
im Schatten liegenden Anlegebrücken am riesigen Doppelrumpf des
Schiffes erkennen. Mehrere Yachten segelten durch diese Einfahrt
hinein oder heraus. Sie erinnerten mich an Schmetterlinge, die durch
die offene Hintertür eines Hauses flattern.
In ihrer Gigantomanie war die Lemuria wohl das
hässlichste Monstrum, das ich je hatte in See stechen sehen.
Zweifellos war der Blick aus einer der siebenhundert
Eigentumswohnungen an Bord des Schiffes sensationell. Reiche Leute,
dachte ich leicht neidisch. Allesamt mit allzu viel Geld und allzu
wenig Zeit, um es auszugeben. Jede Menge potenzieller Investoren.
Vielleicht war Golochow damit auf eine Goldmine
gestoßen.
Jenseits der langen Zufahrt zum Hafen von Canaveral konnte ich den
stählernen Turm einer Abschussrampe ausmachen. Ich drehte die
Landkarte auf dem Tisch herum. Cape Canaveral, Abschusskomplex 39. Im
Umkreis von ein paar Kilometern rund um das Hotel waren einige der
ehrgeizigsten technologischen Projekte in der Menschheitsgeschichte
zu bewundern. Warum empfand ich nicht wenigstens einen Anflug von
Stolz?
Unsere Zimmer lagen im vierten Stock des Westin Tropicale. Dort hatten wir uns unter dem Deckmantel eines örtlichen
Investment-Seminars eingemietet. Es war die Rede davon gewesen, dass
wir im Stationsgebäude der Küstenwache untergebracht
würden, doch das hatte sich kurz vor unserer Ankunft
zerschlagen, daher unsere neue Tarnung. Wir hatten Namensschilder,
Taschen voll einschlägiger Abhandlungen und alles, was wir sonst
noch brauchten. Als Höhepunkt unseres Seminars war eine
Besichtigung der Lemuria
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